wpn2030-Lenkungskreismitglied Jürgen Renn (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte) schreibt gemeinsam mit Christoph Rosol (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte) und Robert Schlögl (Fritz-Haber Institut und Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion) über systemische Zusammenhänge der Corona-Krise – und warum gerade jetzt die Zeit ist für verstärkten Klima- und Artenschutz. Der Beitrag wurde in der Süddeutschen Zeitung am 15. April 2020 erstveröffentlicht.
Die Deutschlandkarte des Dürremonitors des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung ist in weiten Teilen bereits wieder orange bis tiefrot eingefärbt. Während die Agrarwirte in der Corona-Krise noch um helfende Hände und Gelder ringen, droht bereits die nächste Keule: mitten in der Wachstumsphase bleibt der Regen wochenlang aus. Die Modelle des Europäischen Zentrums für mittelfristige Wettervorhersage sagen auch für die kommenden Monate außergewöhnliche Trockenheit voraus. Waldbrände, Ernteausfälle und nicht schiffbare Flüsse werden vermutlich bald schon Corona-Meldungen Konkurrenz machen. Die Dürre geht ins dritte Jahr.
Mit der Corona-Krise verschwinden nicht einfach andere, bereits bestehende Menschheitsherausforderungen. Ganz im Gegenteil: Corona schärft noch einmal den Blick auf grundlegende Bedrohungen wie den Klimawandel und das Artensterben sowie die Notwendigkeit, hier nun endlich und entschieden zu handeln.
Wie das? Zum Einen zeichnet sich immer deutlicher ein direkter Zusammenhang zwischen Gesundheits-, Klima- und Biodiversitätskrise ab. Eine wesentliche Ursache für den in den letzten Jahrzehnten beobachteten Anstieg von neuen, zwischen Tier und Mensch übertragenen Infektionskrankheiten ist die rasant voranschreitende Zerstörung von Lebensraum von Wildtieren. Dieser Lebensraumverlust wird vorangetrieben durch die Vernichtung von Wäldern für landwirtschaftliche Nutzung, durch Bergbau und die Zunahme der Flächenversiegelung sowie ein beängstigend schnell ablaufender Klimawandel. Wildtiere, oftmals die letzten ihrer Art, kommen in direkten Kontakt mit anderen Spezies und letztlich dem Menschen – wie auf dem Lebendtiermarkt in Wuhan geschehen. Vektor-Überträger wie bestimmte tropische Stechmücken-Arten machen sich auch in höheren Breiten breit. Die genetische Homogenität und räumliche Konzentrierung, die in industrieller Massentierhaltung vorherrscht, bereitet weiteren Nährboden für die Ausbreitung von Infektionskrankheiten.
Tatsächlich schlummern noch tausende weiterer, bisher unbekannter Viren in der Tierwelt und warten nur auf das Überschreiten der Artengrenze. Nach SARS-CoV-2 folgt möglicherweise SARS-CoV-3 und droht erneut Gesundheitssysteme zu überfordern und die Welt in ein wirtschaftliches Wachkoma zu versetzen. Biologen sehen daher die wirksamste Prophylaxe gegen Epidemien und Pandemien der Art, wie wir sie mit Corona gerade global durchleben, in einem konsequenten Schutz der natürlichen Vielfalt und dem Aufrechthalten räumlicher Barrieren zwischen Wirtstier und Mensch. Der Erhalt artenreicher und somit widerstandsfähiger Naturräume für Tiere und Pflanzen, die Stabilisierung regionaler Ökosysteme sowie letztlich auch der globale Klimaschutz sind in einer Welt nach Covid-19 nicht mehr „nur“ notwendiger Erhalt langfristiger Lebensgrundlagen. Sie sind vielmehr auch eine wesentliche, und vergleichsweise günstig zu bekommende Vorsorge vor ruinösen Pandemien.
Weiterhin ist eine wesentliche Ursache für die hohe Sterblichkeit von Covid-19 in den Schädigungen und Vorerkrankungen des Atemwegsystems zu sehen. Eine aktuelle biostatistische Studie des Harvard T.H. Chan School of Public Health ergab, dass eine Zunahme von nur 1 μg/m3 an Feinstaub (PM2,5) mit einer 15-prozentigen Zunahme der Sterblichkeit durch Covid-19 einhergeht. Der Einfluss der Langzeitbelastung durch Luftverschmutzung auf die Mortalitätsrate ist bislang unterschätzt worden und gilt mittlerweile als eine der wichtigsten Ursachen für Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen. Ohne die Emissionen fossiler Brennstoffe würde die globale mittlere Lebenserwartung um 1,1 Jahre steigen und um 1,7 Jahre, wenn alle potenziell kontrollierbaren anthropogenen Emissionen wegfallen würden. Auch hier gilt, ganz direkt: Menschen leben gesünder und länger in einer defossilisierten Gesellschaft.
Dies sind nur zwei Elemente in einer ganzen Matrix von Indizien, die zeigen, dass wir es bei Corona nicht mit einem „Black Swan“, einem seltenen Ereignis zu tun haben, sondern mit dem Sichtbar- und Spürbarwerden systemischer Problemlagen. Diese beruhen auf den sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und technologischen Dynamiken und der rapiden Verschlechterung der globalen Umweltsituation. Neue Konzepte in der Gesundheitsforschung wie „One Health“ und „Planetary Health“ tragen dem Umstand des elementaren Zusammenhangs zwischen Tier-, Umwelt- und menschlicher Gesundheit bereits Rechnung. Konsequenter Klima- und Artenschutz bedeuten demnach de facto auch effektiven Gesundheitsschutz.
Auf der anderen Seite etablieren sich neuere Forschungsansätze im Kooperationsbereich von Natur- und Kulturwissenschaften, welche die systemischen Schocks unseres hochindustrialisierten Zeitalters besser verstehen und zu parieren helfen: eine Art “Geoanthropologie” oder Erde-Mensch-Wissenschaft des Anthropozäns. Derlei wissenschaftliche Ansätze sind bestrebt, die notwendige Anpassung an die systemischen Risiken der Gegenwart und die Beseitigung ihrer Ursachen effektiv zusammenzubringen.
Unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Antwort auf diese Krise darf nicht hinter diese Erkenntnisse zurückfallen. Der monströse Störfall der Corona-Pandemie muss als Warnsignal verstanden werden. Er unterstreicht die Unabdingbarkeit einer umfassenden sozial-ökologischen Transformation, die darauf abzielt, den immer steileren Abwärtstrend der Lebens- und also Gesundheitsgrundlagen aufzuhalten und mittelfristig umzukehren – und zwar bevor dieselben katastrophale Kipppunkte erreichen. Auch in diesem Zusammenhang gilt also: Flatten the curve!
Wie die vor zwei Tagen veröffentlichte Stellungnahme der Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten der Corona-Pandemie deutlich gemacht hat, sind wir gut beraten, die zu setzenden wirtschaftlichen Impulse nachhaltig zu gestalten. Jetzt ist die Zeit für akute Rettungsmaßnahmen von Menschenleben und wirtschaftlichen Existenzen. Geld, das nun und mehr noch in den bald anlaufenden Konjunkturprogrammen in die Hand genommen wird, ist jedoch verlorenes Geld insofern es nicht der Schaffung von Resilienz und Nachhaltigkeit im gesamten System wirtschaftlicher Aktivitäten dient. Eine funktionierende Daseinsvorsorge und der Schutz von Gemeinschaftsgütern wie die öffentliche Gesundheit zeigen derzeit ihren wirklichen Wert.
Mit dem zu erwartenden ökonomischen Schub ergibt sich somit auch die historische Verantwortung einer echten Weiterentwicklung von Energie-, Ernährungs- und Verkehrswende jenseits der bisherigen inkrementellen und unzureichenden Veränderungen. Notwendig ist dabei eine transparente Kostendiskussion, welche die massiven externen Kosten von Klima-, Umwelt-, und nicht zuletzt auch die daraus resultierenden Gesundheitsschäden berücksichtigt. Der Abbau von direkten und indirekten Subventionen speziell im Bereich nicht-nachhaltiger Stoff- und Energiekreisläufe sollte jetzt angegangen werden, während die weitere Zementierung nicht-nachhaltiger und emissionsintensiver Infrastruktur unbedingt zu vermeiden ist.
Der Aufbau einer klimafreundlichen Wirtschaft, auch Landwirtschaft, und deren weitgehende Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Artenverlust, neue Mobilitätsformen oder eine grüne Digitalisierung bieten wesentliche Impulse für Innovation und ein krisenfesteres Wachstum. Die Konzepte und Technologien dafür sind längst da, ebenso wie der Wille in der Bevölkerung und selbst der Wirtschaft. Ein gemeinsam von 180 hochrangigen europäischen Politikern, Wirtschaftsführen, Gewerkschaftern und Think-Tanks veröffentlichte Aufruf für jetzt zu tätigende grüne Investitionen unterstreicht dies noch einmal eindrücklich. Jetzt gilt es, die grundlegende Weichen zu stellen: für eine dringend benötigte Technologieoffenheit bei der Energiewende, für die Schließung regionaler und globale Stoffkreisläufe, für die Etablierung entwaldungsfreier Lieferketten, für einen lenkungswirksameren CO2-Preis, für allgemeine gemeinschaftliche Teilhabe. Die Ziele des europäischen Green Deals, die sowohl im novellierten EU Circular Economy Action Plan als auch im Just-Transition-Mechanismus und der Farm-to-Fork-Strategie ihren Widerhall finden, bieten bei alldem eine sinnvolle Orientierung. Für Deutschland gilt es die eigene Nachhaltigkeitsstrategie nun verstärkt weiter zu entwickeln; die Empfehlungen der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 bieten hierzu die richtigen Ansätze.
Die Dringlichkeit der Bedrohung durch globale Herausforderungen, aber auch die damit verbundenen Möglichkeitshorizonte sind durch die Corona-Pandemie deutlich geworden. Das Trauma einer über Generationen nicht dagewesenen Störung der gesellschaftlichen Interaktion muss erst noch bewältigt werden. Aber wie aus vielen anderen Krisen bekannt, setzt nach einer Phase der akuten Zuspitzung schnell wieder gesellschaftliches Vergessen ein. Corona sollte ein Anfang sein, diesen mentalen und politischen Mechanismus zu brechen und jetzt vorausschauend zu handeln. Damit die kommende Krise nicht noch gefährlicher wird.
Mit einer nachhaltigen Ausrichtung der jetzt getätigten Investitionen und Programme entstünde die Notwendigkeit, aber auch die Freiheit, wirtschaftliche, technische und auch gesellschaftliche Innovation anzustoßen. So argumentiert auch die heutige Leopoldina-Stellungnahme. Wird diese Chance vertan, so dürfte ein später unvermeidbares, noch drastischeres Umsteuern unvergleichlich schwieriger und teurer werden, und mit noch größeren menschlichen Verlusten verbunden sein. Die Corona-Krise ist eine Grundlagenkrise und ihre Bewältigung wird Jahre in Anspruch nehmen: Zeit, die wir nicht zweimal haben, um die nötigen Transformationen anzugehen. Die Monitore stehen bereits auf tiefrot.
Zu den Autoren:
Christoph Rosol ist Leiter der Forschungsgruppe „Anthropozän“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Kulturen der Welt.
Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Lenkungskreismitglied der wpn2030
Robert Schlögl ist Direktor am Fritz-Haber Institut sowie am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion.
Die Autoren waren an der Erstellung der dritten Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina „Coronavirus-Pandemie – Die Folgen der Krise nachhaltig überwinden“ beteiligt.