Welche Rolle spielen Pfadabhängigkeiten in Prozessen der Transformation zur Nachhaltigkeit? Wie können Blockaden überwunden werden und problematische Pfadabhängigkeiten künftig vermieden werden? Welche Rolle spielt dabei das Wissen aus der Transformationsforschung? Darüber spricht Dirk Messner im Interview.
Herr Messner, Welche Rolle spielen Pfadabhängigkeiten in Prozessen der Transformation zur Nachhaltigkeit?
Messner: Die Vergangenheit prägt die Gegenwart und erschwert oft den Übergang zu neuen Entwicklungsphasen. Etablierte Regelwerke und Institutionen, Infrastrukturen, Leitbilder, Heuristiken, Normen und Werte, an denen sich Akteure orientieren, Interessenstrukturen und Machtallianzen, stellen zusammen Pfadabhängigkeiten dar, die zunächst überwunden werden müssen, um neue Entwicklungen voranzubringen.
Das bestehende emissions- und ressourcenintensive Wohlstandsmodell in Deutschland und anderen Industrienationen hat viele solcher Pfadabhängigkeiten geschaffen. Diese Pfadabhängigkeiten müssen nun aufgebrochen werden. Institutionen und Regelwerke müssen verändert werden, um die Nachhaltigkeitsziele zu unterstützen. Etwa durch Ressourceneffizienzstandards, die Bepreisung des Naturverbrauches oder den Schutz von Ökosystemen. Energie- und Mobilitätsinfrastrukturen müssen umgebaut werden, neue Leitbilder, wie das der Dekarbonisierung oder der Kreislaufwirtschaft, müssen entstehen und sich in Wirtschaft und Gesellschaft durchsetzen.
Welche hemmenden Kräfte gibt es?
Messner: Bestehende Allianzen, wie sie sich derzeit beispielsweise zwischen Gewerkschaften und Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft bilden, können Transformationsprozesse verlangsamen, solange die Zukunftsinteressen dieser Akteure noch nicht gut organisiert sind. Nur wenn solche Blockaden aufgebrochen und gesamtgesellschaftlich tragbare Lösungen gefunden werden, können tiefgreifende Nachhaltigkeitstransformationen gelingen.
Wie können solche Blockaden überwunden werden?
Messner: Es reicht eben nicht zu wissen, dass globale Erwärmung und die Überlastung von Ökosystemen Probleme darstellen. Es müssen neue Lösungen entwickelt werden, denen die Bürgerinnen und Bürger vertrauen, die Unternehmen Planungs- und Investitionssicherheit geben und die existierende Entwicklungs-, Denk- und Wohlstandsmuster überwinden.
Wichtig ist: je erfolgreicher das alte Entwicklungsmodell war, desto schwieriger wird dieser Übergang. Die deutsche Automobilwirtschaft ist ein Beispiel einer langen Erfolgsgeschichte, sie wurde jahrzehntelang weltweit bewundert, sie hat für Beschäftigung und gute Löhne gesorgt. Sich von diesem Erfolgsmodell zu verabschieden, fällt schwer. Das alte Erfolgsmodell hat tiefe Pfadabhängigkeiten geschaffen, die Beharrungskräfte stärken. Chinas Autounternehmen sind da beispielsweise im Vergleich als Newcomer zu sehen; sie könnten den Umbruch zur Elektromobilität daher schneller schaffen als die Weltmeister von gestern.
Welche Schwerpunkte sehen Sie für eine zukünftige wissenschaftliche Analyse von Transformationsprozessen, um solche problematischen Pfadabhängigkeiten zu vermeiden?
Messner: Damit Nachhaltigkeitstransformationen gelingen, müssen technologische Innovationen gestärkt werden, etwa erneuerbare Energiesysteme, emissionsfreie Mobilitätsinfrastrukturen, neue und emissionsfreie Baustoffe für den Wohnungsbau, umweltverträgliche Kraftstoffe für den Luftverkehr. Die Technikwissenschaften spielen hier eine sehr wichtige Rolle. Doch zeigt die Analyse bestehender Pfadabhängigkeiten, dass es keine rein technologischen Lösungen für den Übergang zu Wohlstandsmodellen gibt, die für eine 10 Milliarden Menschen umfassende Zivilisation gute Zukunftsperspektiven eröffnen und zugleich die Grenzen des Erdsystems anerkennen.
Neben technologischem Wandel geht es daher zugleich um gesellschaftlich-institutionellen Wandel und normative Neuorientierungen. Hier können uns die Sozial-, Wirtschafts- und Humanwissenschaften weiterhelfen. Beispielsweise dadurch, dass sie folgende Fragen adressieren: Wie können unsere Steuersysteme umgebaut werden, um Umweltverbrauch zu reduzieren? Wie sieht eine umwelt- und menschenorientierte Stadtplanung aus? Wie können Klimaschutz und soziale Inklusion zusammengeführt werden? Wie können Digitalisierung und künstliche Intelligenz auf die Agenda 2030 und ihre 17 Nachhaltigkeitsziele ausgerichtet werden?
Ohne solche gesellschaftlich-institutionellen Suchprozesse und Innovationen kann Nachhaltigkeit nicht gelingen. Nicht weniger gewichtig sind normative Neuorientierungen: Unsere Generation muss Erdsystemverantwortung und die Bedeutung von Global Commons erlernen und anerkennen, dass unser gegenwärtiges Handeln die Existenzbedingungen aller zukünftiger Generationen unterminieren kann – etwa wenn wir auf eine vier Grad wärmere Erde zusteuerten. Die Philosophie kann hier vordenken, wie die Ideen der Aufklärung im Anthropozän weiterentwickelt werden können.
Der Übergang zur Nachhaltigkeit muss auf ökonomisch-technologischen Neuorientierungen basieren, stellt aber darüber hinaus eine große kulturell-zivilisatorische Herausforderung dar. Bildung, gesellschaftliche Dialoge, Medien, gesellschaftliche Kommunikation und Kunst kommen hier genauso ins Spiel. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) unterscheidet diesbezüglich zwischen transformativer Wissenschaft, die konkrete technologische, institutionelle, normative, soziale Lösungen für Nachhaltigkeitsherausforderungen entwickelt sowie der Transformationsforschung, die die Dynamiken, Treiber und Blockademechanismen eines großskaligen gesellschaftlichen Wandels untersucht.
Die Transformationsforschung setzt voraus, dass wir das Zusammenspiel sozialer Systeme, also unserer Gesellschaften, mit technischen Systemen sowie dem Erdsystem besser verstehen. Das verlangt weitreichende Interdisziplinarität, die in unserem oft versäulten Wissenschaftssystem keine Selbstverständlichkeit ist.
Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie in der Umsetzung der Erkenntnisse aus der Transformationsforschung für die Politik und die Gesellschaft?
Messner: Stärker werdende autoritär-nationalistische Bewegungen zeigen, dass Teile unserer Gesellschaften auf Veränderungsdruck mit Angst und Wut reagieren. Einfache Lösungen werden gesucht: Our-Country-First-Agenden negieren die Tatsache der offensichtlichen globalen Vernetzung all unserer Gesellschaften; Die Ausgrenzung „der Anderen“ steht im Gegensatz zu Inklusion und sozialem Ausgleich; autoritäre Leitbilder bedrohen die Vielfalt und Offenheit unserer Gesellschaften.
Die Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung muss diesen gesellschaftlichen Turbulenzen Rechnung tragen. Dekarbonisierung, umfassende Kreislaufwirtschaften, Entkopplung von Wohlstand und Umweltverbrauch sind eben keine technokratischen „Projekte“, die sich in Energie- Ressourcen- und Treibhausgaseffizienz erschöpfen. Menschen müssen für die Nachhaltigkeitstransformation gewonnen werden; Investitionen in Klimaschutz, in soziale Kohäsion und internationalen Interessenausgleich gehören daher zusammen.
Vielleicht besteht die größte Herausforderung deshalb darin, dass in der menschlichen Zivilisationsgeschichte größere Veränderungen, auch zivilisatorische Fortschritte wie die Wohlfahrtsstaaten, die europäische Integration oder der Aufbau des Systems der Vereinten Nationen – oft in und durch Krisen und Konflikte entstanden sind. Krisen und Konflikte sind Mechanismen, die Pfadabhängigkeiten aufbrechen. Mit Blick auf die globale Erwärmung und den möglichen Erdsystemwandel im 21. Jahrhundert müssen wir nun lernen, auf Grundlage unseres Wissens zu den destruktiven Wirkungen von Kipp-Punkten präventiv zu Handeln bevor uns irreversible Krisen zu Anpassungen zwingen.