Wie relevant ist eine Betrachtung von Querbeziehungen zwischen den Nachhaltigkeitszielen? Wie können sie erfasst und analysiert werden? Welche Rolle kann die Forschung dabei spielen? Darüber spricht Christa Liedtke im Interview.
Frau Liedtke, wie relevant ist für Sie die Betrachtung von Querbeziehungen zwischen den Nachhaltigkeitszielen für eine forschungsbasierte Auseinandersetzung mit der DNS?
Christa Liedtke: Die wissenschaftliche Analyse der Querbeziehungen ist meiner Ansicht nach essentiell für eine erfolgreiche Umsetzung der DNS. Wenn wir die Ökosysteme erhalten, den Klimawandel auffangen, und Wohlstand für alle ermöglichen wollen, so müssen wir die drei Kerndimensionen der nachhaltigen Entwicklung immer zusammendenken: Ökologie: also den Schutz und Erhalt eines intakten ökologischen Lebensraums. Soziales: die Bedürfnisse des Menschen – zum Beispiel sozialer Ausgleich und Teilhabe/individuelle Entfaltung, und die Ökonomie: die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit und Entwicklung, hier aber eben auch flexiblere Wirtschaftsmodelle, die eine nachhaltige Entwicklung fördern und stützen.
Für die Entwicklung und Umsetzung politischer Maßnahmen heißt das: Das Zusammendenken darf nicht auf eine übergeordnete Instanz ausgelagert werden, sondern muss in allen Politikfeldern praktiziert werden. In der realen Umsetzung muss dieses Zusammendenken integriert evaluiert werden – eben nicht allein durch ressortbezogenes SDG-Monitoring, sondern integriert zu den differenzierten sozial-ökologischen und -ökonomischen Lagen der Menschen. Also ein Wirtschaftsministerium muss sich auch mit Umwelt – und Sozialfragen befassen – und umgekehrt. Die Forschung sollte diese Auseinandersetzung dadurch unterstützen, indem sie Synergien, Konflikte und insbesondere nicht direkt offensichtliche Korrelationen zwischen etwa Zielbereichen, Politikfeldern, Maßnahmen oder Auswirkungen aufdeckt. Reboundeffekte, sozio-ökonomische Effekte und Co-Benefits müssen so handlungsleitend für die Politik und Menschen sichtbar werden.
Wie erfassen und analysieren Sie die Querbeziehungen zwischen den Nachhaltigkeitszielen?
Liedtke: Am Wuppertal Institut untersuchen wir die Querverbindungen zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Aspekten durch die Kopplung von Umwelt- und Sozialberichterstattung in Deutschland und auf Bundeslandebene – also in den amtlichen Statistiken des Bundes und der Länder zu sozialer Mindestsicherung sowie Armut und sozialer Ausgrenzung. Wir wollen also beispielsweise herausfinden: In wieweit sind umweltpolitische Entwicklungen durch soziale Phänome zu erklären – und umgekehrt.
Zu diesen und weiteren Fragestellungen arbeiten wir am Wuppertal Institut derzeit primär mit zwei Instrumenten: dem Konsumindikator und dem Ressourcenrechner.
Können Sie diese bitte erläutern?
Liedtke: Für den Konsumindikator werden verschiedene Arten von Daten zu den Konsummustern deutscher Haushalte erhoben – also welche Arten von Haushalten kaufen was und wie viel davon, wie nutzen sie diese – und wie beschreiben und bewerten die Haushalte ihre Ressourcenverbräuche in Sachen Nachhaltigkeit und Umweltauswirkungen? Aus der Analyse der Daten lassen sich differenzierte Aussagen zu Zusammenhängen zwischen Konsummustern und sozialen Hintergründen ableiten.
Der Ressourcenrechner ist ein Online-Tool, das Nutzerinnen und Nutzern ermöglicht, ihren ökologischen Rucksack zu ermitteln – also wie viele natürliche Ressourcen sie durch ihren Konsum verbrauchen, inklusive Herstellung, Nutzung und Entsorgung. Der Rechner gibt zudem Anregungen zur Verringerung dieses Verbrauchs. Durch die zusätzliche anonymisierte Abfrage von sozioökonomischen Daten erhalten wir eine weitere wissenschaftliche Grundlage, um Zusammenhänge zwischen etwa Einkommen, Konsumverhalten, Lebenszufriedenheit oder Ernährungsgewohnheiten zu erforschen und sie mit ökologischen Auswirkungen zu verknüpfen. Inzwischen machen wir das auch länderübergreifend in sieben Ländern – diese Methodik könnte dazu dienen, einen Konsumindikator (SDG 12 Monitoring) zu etablieren, der auch auf makrowirtschaftlicher Ebene anzeigen kann, welche Konsumtrends und –Muster sich entwickeln. Wir konnten etwa abbilden, inwieweit die Digitalisierung den Ressourcenkonsum verändert. Mit den Haushalten in sieben Ländern bauen wir nun interkulturell einen Austausch zu den jeweiligen Konsummustern auf. Es lässt sich sehr schnell zeigen, dass in Ländern wie Indien die „Schere“ des Ressourcenkonsums sehr weit auseinander geht. Auch in Deutschland sind erhebliche Unterschiede analysierbar. Kolleginnen und Kollegen vom Institute for Global Environmental Strategies, der Aaalto Universität und D-Mat Ltd. haben zuletzt auch eine entsprechende Studie zu den 1,5-Grad-Lebensstilen publiziert– dies erweitern wir nun um eine Transformationsperspektive.
Welche Fragestellungen erachten Sie als besonders relevant für zukünftige Forschung zu den Querbeziehungen zwischen den Nachhaltigkeitszielen?
Liedtke: Es gibt eine Reihe von Fragestellungen, die es in Bezug auf die Analyse der Querbeziehungen zwischen den Nachhaltigkeitszielen zu beantworten gilt. Wir möchten uns in der Zukunft beispielsweise die Zusammenhänge zwischen dem Zugang zu nachhaltigen Produkten, Einkommen und räumlicher Angebotsstruktur etwa dem ÖPNV oder der Nutzung von Foodsharing beziehungsweise Tafeln oder zwischen der räumlichen Verteilung von sozialen Wohnungsbauweisen mit Passivhausstandard und Mietentwicklung anschauen.
Grundlegend stellt sich für uns die Frage: Welche Verknüpfungen der Daten aus der bestehenden Sozialberichterstattung können sinnvoll mit Umweltindikatoren verknüpft werden, um konkrete Politiken und Maßnahmen abzuleiten, die der Erreichung von unter anderem SDG 12 dienen? Können soziale und ökologische Leistungen sowie Verwerfungen in belastbarer Korrelation abgeleitet werden? Um Lösungen zu finden, die die gesetzten Nachhaltigkeitsziele besser erreichen können, benötigen wir entsprechend gestaltete Produkte und Dienstleistungen sowie Infrastrukturen, die einen 1,5 Grad-Lebensstil auch erlauben. Um diese zu entwickeln und zu erproben – mit den Menschen, die sie nutzen -, benötigen wir eine Reallabor- beziehungsweise LivingLab-Innovationsinfrastruktur, in der die Akteure gemeinsam Lösungsansätze finden und ökointelligent materialisieren können.