Dr. Marianne Beisheim spricht im Interview über die Auswirkungen der Corona-Krise auf das High-Level-Political Forum (HLPF) zu nachhaltiger Entwicklung und auf die Diskussion zu Nachhaltigkeit bei den Vereinten Nationen in New York.
Frau Beisheim, wie wird die Diskussion zu Corona-Krise und Nachhaltigkeit bei den Vereinten Nationen in New York geführt?
Dr. Marianne Beisheim: Die UN-Generalversammlung hatte beim SDG-Gipfel im September 2019 die Aktionsdekade für die Umsetzung der 2030 Agenda und Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) ausgerufen. Seit März beeinflusst die Covid-19 Pandemie die Diskussion in New York immer stärker. Insbesondere die G77+China setzen sich für einen Fokus auf die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen ein, also für eine verstärkte Priorisierung der Armutsbekämpfung. Der Generalsekretär und das UN-System halten bislang an der 2030-Agenda und den SDGs fest und wollen die mit der 2030 Agenda vereinbarte Transformation nun verstärkt mit verbesserter Vorsorge und Resilienz (Widerstandsfähigkeit) verbinden. Das Schlagwort heißt „Build Back Better“, entwickelt im Kontext des Sendai-Rahmenwerks für Katastrophenvorsorge (2015-2030). Über integrierte Maßnahmen sollen sowohl Armutsbekämpfung als auch Klimaschutz und die anderen Ziele nachhaltiger Entwicklung berücksichtigt werden. Derartige gekoppelte Maßnahmen hatte ja auch bereits der von Wissenschaftler*innen verfasste Weltnachhaltigkeitsbericht (GSDR 2019) empfohlen. Dabei sind auch Einsichten der Forschung zu Risiko-Governance interessant, wie etwa die Erkenntnis Risiken am besten an der Quelle anzugehen („deal with risk at source“). Dies sollte in der Konsequenz dazu führen, Zoonosen auch über Biodiversitätspolitik und den Schutz von Ökosystemen zu bekämpfen, um Epidemien vorzubeugen. Diese und andere Zusammenhänge wurden in New York bislang eher vernachlässigt; nun sollten diese offensichtlichen Querbezüge zwischen menschlicher Sicherheit und planetarer Gesundheit, sowie zu anderen Anliegen der 2030-Agenda mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Welche Rolle hat das Hochrangige Politische Forum zu nachhaltiger Entwicklung dabei?
Beisheim: Das HLPF – das jährliche achttägige UN-Forum zu Fragen nachhaltiger Entwicklung bei den Vereinten Nationen in New York – hat das explizite Mandat, derartige Querverbindungen sowie auch „new and emerging issues“ im Bereich nachhaltiger Entwicklung zu debattieren und politische Empfehlungen zu formulieren. Bereits das Programm des diesjährigen HLPFs im Juli 2020 steht ganz im Zeichen der Covid19-Pandemie und der oben genannten Ansätze. Viele Panels und Diskussionsrunden sollen gute Praktiken debattieren, wie Regierungen – auch zusammen mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren – über eine integrierte Umsetzung der SDGs aus der jetzigen Krise kommen können und wie sie für zukünftige Schocks besser aufgestellt sein könnten. Gleichzeitig zeigt das heftige politische Gerangel in New York um die bislang noch nicht fertig verhandelte Ministererklärung, also das offizielle Ergebnisdokument des HLPF, dass es im Moment keinen starken internationalen Konsens für eine solche Umsetzung der SDGs gibt.
Darüber hinaus ist zu hoffen, dass die aufgrund der Pandemie auf 2021 verschobenen Reformbeschlüsse zu den Arbeitsmethoden des Forums, der sogenannte „HLPF Review“, das Forum zukünftig in die Lage versetzen werden, seinen Aufgaben effektiver nachzukommen. Beispielsweise könnten die Vorbereitungsprozesse des HLPF deutlich bessere Ergebnisse und Empfehlungen liefern, wenn etwa mittels integrierter Assessments Maßnahmen vergleichend analysiert würden und so eben jene „best practices“ wissenschaftlich solide identifiziert werden könnten. Das wäre für das peer learning, das beim HLPF stattfinden soll, ein Riesengewinn. Im Moment fehlt den UN-Mitgliedstaaten jedoch der politische Wille, so etwas zu mandatieren und dann auch zu finanzieren.
Ist die Pandemie Risiko oder Chance für die UN-Nachhaltigkeitspolitik?
Beisheim: Einerseits besteht die Gefahr, dass die Pandemie das Momentum, welches mit der Politischen Erklärung der Staats- und Regierungschefs beim 2019er SDG-Gipfel und auch anlässlich des 75. Geburtstags der Vereinten Nationen aufgebaut wurde, massiv ausbremsen wird. Andererseits oder auch gleichzeitig könnte die nun angestoßene Debatte über klima- und SDG-sensitive Stimulus- und Wiederaufbauprogramme politisch an Fahrt gewinnen. Entsprechend sind zwei Extremszenarien denkbar:
Ein Negativ-Szenario: Je länger die Krise andauert, desto stärker der Backlash für Nachhaltigkeitsthemen, es dominieren wirtschaftliche und nationale Ziele beim Wiederaufbau nach der Krise. Entwicklungs- und Schwellenländer blockieren bei Klima- und anderen Nachhaltigkeitsthemen und verlangen massiv gesteigerte Finanzierungszusagen der Geberländer. Uneinheitliche Positionen innerhalb der Europäischen Union erschweren eine progressive, auf dem „Green Deal“-aufbauende Politik der Europäischen Union in New York. Die Relevanz der 2030 Agenda und SDGs nimmt immer weiter ab.
Ein Positiv-Szenario: Es wächst die Einsicht, dass systemische Krisen extrem hohe Kosten verursachen, wenn nicht rechtzeitig und angemessen vernetzt gehandelt wird. Die in Reaktion auf die Covid-19 Pandemie ergriffenen Maßnahmen überzeugen relevante Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, dass – zumindest in Extremsituationen – Verständnis für notwendige drastische Veränderungen aufgebaut werden kann und ein Verhaltenswandel möglich ist, dass der Staat handlungsfähig ist und Weichenstellungen verändern kann, dass ein digital-gestütztes „Leap-frogging“ vorangetrieben werden kann. Das würde ein Gelegenheitsfenster für Wendeprozesse im Sinne der 2030 Agenda schaffen , verknüpft mit Investitionen in Vorsorge und Resilienz, Krisenfrüherkennung und Science-Policy-Interfaces.
Entscheidend wird sein, welche Akteure oder Institutionen samt ihrer Interessen, Ressourcen und Überzeugungen die Entwicklungen beeinflussen werden, und welche technischen oder politischen Innovationen oder Diskurse dies unterstützen können.
Was kann Deutschland dafür in New York tun?
Beisheim: Die Bundesregierung beabsichtigt, die Folgen und Lehren der Covid-19 Pandemie in die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2020/21 einzuarbeiten. 2021 soll die Strategie dann samt der darin verankerten Maßnahmenpakete im Rahmen des deutschen Länderberichts (voluntary national review) im Juli beim HLPF in New York vorgestellt werden. Dies ist eine Chance, die internationale Debatte mitzugestalten, nicht nur durch Reden, sondern auch durch Taten. Die Bundesregierung sollte dafür jetzt Verbündete suchen. Das Interesse könnte groß sein, gerade wenn Deutschland gut aus der Pandemie hervorgeht und erfolgreich integrierte Maßnahmen und Investitionen auf den Weg bringt, mit denen wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele erreicht werden können. Auf EU-Ebene sollte die Bundesregierung im Zuge ihrer EU-Ratspräsidentschaft die Umsetzung des Green Deals überzeugend vorantreiben. Angesichts der aktuellen Krise des Multilateralismus sollte sie darüber hinaus vor allem dort Allianzen der Willigen für Transformationsprozesse schmieden, wo einzelstaatliche bzw. EU-Aktivitäten an Grenzen stoßen, etwa wegen der Höhe der Kosten oder wegen der Bedingungen des internationalen Wettbewerbs. Mit Blick auf ersteres engagiert sich die Bundesregierung in Reaktion auf die Pandemie bereits in der ACT Plattform (Access to Covid-19 Tools). Im Hinblick auf letzteres könnte sie sich im Rahmen plurilateral koordinierter Investitions- und Strukturprogramme für den sozialverträglichen Ab- und Umbau umweltschädlicher Subventionen oder die gemeinsame Einführung eines CO2-Preises stark machen.