Interview mit Lucia Reisch und Harald Grethe: Grenzübergreifender Austausch zu grenzübergreifenden Themen

Prof. Lucia Reisch, Copenhagen Business School, eh. Sachverständigenrates für Verbraucherfragen, Quelle: SVRV / BMJV

Warum ist der Austausch zwischen Forschenden untereinander und mit der Gesellschaft und Politik so wichtig für die Umsetzung und Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie? Wo muss der Austausch noch weiter gestärkt werden und wie? Welche Herausforderungen stellen die Querbezüge der Ziele? Wie geht die wissenschaftliche Politikberatung mit der hohen Komplexität um? Daüber sprechen Lucia Reisch (Copenhagen Business School) und Harald Grethe (HU Berlin, Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz) im Interview.

 

Frau Reisch, Herr Grethe, können Sie uns einen kurzen Einblick dazu geben, weshalb der Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untereinander und mit der Gesellschaft und Politik so wichtig ist für die Umsetzung und Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie?

Lucia Reisch: Die Querbezüge zwischen den SDGs und den Zielen der DNS sind zahlreich. Der Wissenschaft und auch großen Teilen der Politik ist das sehr bewusst. Allerding befasst sich letztere  mit dieser Komplexität bislang noch nicht ausreichend systematisch.

Das hängt auch damit zusammen, dass die SDGs und die Ziele der DNS Ergebnisse eines politischen Aushandlungsprozesses sind und nicht einer wissenschaftlich deduktiven Analysearbeit von systematisch aufgestellten und operationalisierten Zielen. Dass dies so ist, ist bekannt und auch anerkannt. Die politischen Vorteile eines solchen Vorgehens überwiegen die Nachteile – etwa einige Überschneidungen, oder auch Gegensätze von Zielen, Indikatoren und Maßnahmen, die jetzt aber in der Umsetzung zu Tage treten.

Harald Grethe: Ich denke auch, dass die Forschung zu vielen für die SDGs und für die DNS relevanten Themenbereichen faktisch schon wesentlich weiter ist als dies durch politische Agenden wiedergegeben wird und wiedergegeben werden kann. Jetzt, in der Umsetzung müssen Überschneidungen, Synergien und Zielkonflikte explizit gemacht werden, um umfassende politische Lösungen wissenschaftlich zu informieren. Genau dafür brauchen wir den inter-disziplinären Austausch auch mit der Gesellschaft und der Politik – und über einzelne Ressorts hinweg.

Können Sie ein ganz konkretes Beispiel für solche Querbezüge nennen?

Grethe: Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz etwa erarbeitet Empfehlungen für die Gestaltung einer nachhaltigen Agrar- und Ernährungspolitik, die  eng mit vielen der 17 SGDs für nachhaltige Entwicklung verknüpft sind. Neben dem Beitrag der Landwirtschaft zur globalen Ernährungssicherung, SDG 2, und zur Erzeugung erneuerbarer Energie, SDG 7, stehen hierbei insbesondere die Wechselwirkungen zwischen dem Agrar- und Ernährungssystem und den Umweltmedien im Vordergrund. So ist die Prozessqualität der Nahrungsmittelproduktion von zentraler Bedeutung für die Qualität von Grund- und Oberflächengewässern, SDGs 6 und 14, den Klimaschutz, SDG 13, und die Entwicklung von Biodiversität und Bodenfruchtbarkeit, SDG 15. Gleichzeitig ist die landwirtschaftliche Produktion direkt von der Qualität der Umweltmedien wie etwa des Bodenzustands oder der Klimabedingungen betroffen. Begreift man  Landwirtschaft als einen Teil des Ernährungssystems, folgt hieraus die Bedeutung eines nachhaltigen Konsums als Ansatzstelle für die Steuerung einer nachhaltigen Agrarproduktion, SDG 12. Weiterhin ist die Ernährung eine zentrale Determinante der menschlichen Gesundheit, SDG 3 und aus den Bedingungen der landwirtschaftlichen Produktion resultieren Implikationen für Armut und Ungleichheit, SDG 1 und 10, die Geschlechtergerechtigkeit, SDG 5, sowie nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit, SDG 8.

Wie gehen Sie in Ihrer wissenschaftlichen Politikberatung mit dieser Komplexität um?

Grethe: Aus der Vielzahl der Zielbeiträge zur Gestaltung einer nachhaltigen Agrar- und Ernährungspolitik ergibt sich, dass Empfehlungen nur interdisziplinär erarbeitet werden können. Das erfolgt durch die interdisziplinäre Zusammensetzung des WBAE, aber auch durch die Zusammenarbeit mit anderen Beiräten, etwa im Rahmen gemeinsamer Gutachten, Stellungnahmen und Empfehlungen. So legte der WBA in 2013 eine Stellungnahme zur Reform der Düngegesetzgebung in gemeinsamer Autorenschaft mit dem Wissenschaftlichen Beirat für Düngungsfragen und dem Sachverständigenrat für Umweltfragen vor – WBA, WBD und SRU, 2013 –  und in 2016 ein gemeinsames Gutachten mit dem Wissenschaftlichen Beirat für Waldpolitik zur Klimaschutzpolitik,WBA und WBW, 2016. Ebenfalls wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Empfehlungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik der EU in einer gemeinsamen Presseerklärung mit dem Wissenschaftlichen Beirat für Biodiversität und genetische Ressourcen breit kommuniziert.

Gilt das alles auch für Ihren Bereich, Frau Reisch?

Reisch: Ausgehend von SDG 12 Nachhaltiger Konsum und Produktion bestehen für meinen Forschungsbereich, die interkulturelle Konsumforschung und europäische Verbraucherpolitik, ebenso zahlreiche Querbezüge zu anderen SDGs. Ein Beispiel: Eine detaillierte Analyse der Querbeziehungen zu SDG 12 (Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster) und anderen SDGs wird gegenwärtig erarbeitet, indem das nationale Programm für Nachhaltigen Konsum von einem Konsortium, unter anderem Ökoinstitut, ConPolicy, CCMP der Zeppelin Universität Friedrichshafen) im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) durchleuchtet wird. Hier wird explizit auf die Beziehungen zwischen den Zielen und Indikatoren eingegangen, welche in Bezug zu SDG 12 stehen. Untersucht wird die Vollständigkeit der Ziele und Indikatoren sowie Widersprüche und Zielkonflikte.

Wo sehen Sie konkreten Bedarf für mehr wissenschaftlichen Austausch zu  Querbeziehungen und übergreifenden Themenbereichen der nachhaltigen Entwicklung?

Reisch: Ehrlich gesagt: überall. Sehr anschaulich an der Schnittstelle von Landwirtschaft und Konsum könnten diese Querbeziehungen und übergreifenden Herausforderungen in der Umsetzung der Agenda zum Beispiel im Bereich von  Produktion  und Konsum von Fleisch- und tierischen Eiweißen untersucht werden. Ich halte es für lehrreich und zudem gut kommunizierbar, wenn man sich auf einen solchen Themenbereich fokussiert und von diesem aus alle Bereiche und einschlägigen Zielbereiche durcharbeitet.

Könnten Sie das aus Ihrer Sicht noch weiter ausführen? Wie genau sähe hier der nachhaltige Nutzen aus und weshalb erfolgen aus dem Erkennen solcher Querbeziehungen nicht direkt auch politische Veränderungen?

Grethe: Die Verbesserung des Tierwohlniveaus in der deutschen Nutztierhaltung und darüber hinaus eine generelle deutliche Verringerung des Konsums tierischer Produkte wären durchaus auch aus meiner Sicht spannende Querschnittsthemen, etwa zu SDG 12 und einigen der anderen oben genannten SDGs und Themenbereichen. Im Bereich der Produktion wird beispielsweise ein erhöhtes Tierwohlniveau nicht nur von wissenschaftlichen Gremien angemahnt, sondern auch von nahezu allen im deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien als wichtiges Ziel formuliert. Allerdings werden hierfür weder hinreichend gesetzliche Grundlagen geschaffen noch zeichnet sich die Entwicklung von Strategien für die gerechte Verteilung der hierdurch entstehenden Kosten auf Landwirtschaft, Steuerzahler und Konsumenten ab. Im Ergebnis scheint daher die Lücke zwischen gesellschaftlichem Anspruch und Realität in der Nutztierhaltung zu wachsen. Statt einem langfristig verlässlichen Transformationspfad entsteht zunehmende Investitionsunsicherheit auf Seiten der Produzenten, sowie Vertrauensverluste auf Seiten der Konsumenten.

Die generelle Frage nach einer Verringerung des Konsums tierischer Produkte aus u. a. Klimaschutzgründen erscheint genauso evident. Angesichts eines Anteils des Ernährungssystems an den durch Deutschland verursachten Treibhausgasemissionen von etwa 25 Prozent, ist ein wesentlicher Beitrag des Sektors für die Erreichung engagierter gesamtwirtschaftlicher Reduktionen von hoher Bedeutung. Eine Reduktion des Konsums tierischer Produkte gehört hierfür zu den effizientesten und effektivsten Maßnahmen und ein hiermit einhergehender Rückgang der Produktion würde auch weitere negative Umwelteffekte der Tierhaltung verringern und die Erreichung von Tierwohlzielen erleichtern. Die notwendige Verringerung des Konsums tierischer Produkte und die seitens wissenschaftlicher Beratungsgremien empfohlenen Steuerungsinstrumente werden von der zuständigen Fachpolitik und von den landwirtschaftlichen Interessenvertretungen bisher allerdings kaum thematisiert.

Ergebnisse von Dialogen an der Schnittstelle von Wissenschaft ist Politik sind häufig Stellungnahmen und Gutachten. Welchen Mehrwert versprechen Sie von einem Ausbau des ressort- und disziplinen-übergreifenden Austauschs und Arbeiten? 

Grethe: Diese breite Zusammenarbeit scheint mir vor allem aus zwei Gründen zielführend: Erstens sind viele Problemlagen aufgrund zahlreicher Zielkonflikte, Wechselwirkungen zwischen Politikfeldern und Verlagerungseffekte so komplex, dass über Politikfelder hinweg konsistente Empfehlungen eine breite fachliche Expertise erfordern. Zweitens sind einige Problemlagen zwar wissenschaftlich gut erfasst, und aufgrund ihrer Eindeutigkeit liegen zentrale politische Handlungsempfehlungen seitens verschiedener einzelner wissenschaftlicher Beratungsgremien vor, diese kommen aber aufgrund von politischen Widerständen in wesentlichen Teilen nicht zur Umsetzung – wie etwa die dringend erforderliche Verteuerung fossiler Energie als zentrales Klimaschutzinstrument oder eben die erwähnten Änderungen in der Produktion und im Konsum tierischer Produkte. Dass sich die notwendigen Veränderungen in der Konsum- sowie der Agrar- und Ernährungspolitik aus der Dynamik des Zusammenspiels zwischen der Interessenvertretung der Wirtschaft, der zuständigen Fachpolitik und der fachbezogenen Zivilgesellschaft ergibt, scheint zurzeit eher unwahrscheinlich. Dort wo der Handlungsbedarf wie auch die daraus folgenden Empfehlungen aus Sicht verschiedener Beratungsgremien besonders eindeutig sind, könnte eine gemeinsame Positionierung einer größeren Gruppe von Beiräten und Räten hilfreich sein, um Akteure in unterschiedlichen Politikfeldern und breitere Teile der Zivilgesellschaft in die Diskussion einzubeziehen.

Reisch: Um beim Beispiel zu bleiben: Wenn namhafte Expertenräte gemeinsam auftreten und politische Empfehlungen abgeben, beziehungsweise zu den benötigten Veränderungen in der Produktion und dem Konsum tierischer Produkte, dann hat dies in der Politik durchaus Aufmerksamkeitswert. Bislang gab es hin und wieder Kooperationen, aber eher punktuell und noch immer selten. Das Thema Produktion und Konsum tierischer Produkte scheint mir hierfür attraktiv, weil es greifbar ist, weil es eine gute empirische Evidenz aus den verschiedenen Disziplinen gibt, weil Fleischproduktion und –konsum – gemeinsam mit Flugreisen und Heizen – zu den Top Drei der problematischen Konsumverhaltensweisen gehört und weil das Thema zudem weitreichende soziale und kulturelle Komponenten hat, ländliche Räume versus Städte, Arbeitsplätze, Betriebe und Existenzen.

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