Interview mit Jürgen Renn zur Konsultationsfrage 1

Jürgen Renn (MPI für Wissenschaftsgeschichte) in einer Lenkungskreissitzung

wpn2030-Lenkungskreismitglied Prof. Jürgen Renn (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte) spricht im Interview zur Konsultationsfrage 1: Können und müssen wir die Konzeption von Nachhaltigkeit weiterentwickeln?

Herr Professor Renn, wie fordert Ihres Erachtens die Corona-Pandemie die Nachhaltigkeit heraus?

Prof. Jürgen Renn: Corona schärft noch einmal den Blick auf die systemischen und sich oftmals gegenseitig verstärkenden Wechselwirkungen globaler Bedrohungen wie den rasanten Biodiversitätsverlust, den Klimawandel und den prekären Charakter vieler öffentlicher Gesundheitssysteme weltweit. Es zeichnet sich immer deutlicher ein direkter Zusammenhang zwischen Gesundheits-, Klima- und Biodiversitätskrise ab.

Eine wesentliche Ursache für den in den letzten Jahrzehnten beobachteten Anstieg von neuen, zwischen Tier und Mensch übertragenen Infektionskrankheiten ist die rasant voranschreitende Zerstörung von Lebensraum von Wildtieren. Dieser Lebensraumverlust wird vorangetrieben durch die Vernichtung von Wäldern für landwirtschaftliche Nutzung, durch Bergbau und die Zunahme der Flächenversiegelung sowie durch einen beängstigend schnell ablaufenden Klimawandel in vielen Bioregionen der Erde. Auch die genetische Homogenität und Enge in der Massentierhaltung ist eine Ursache für den Ausbruch von Zoonosen.

Neue Konzepte in der Gesundheitsforschung wie „One Health“ und „Planetary Health“ tragen dem Umstand des elementaren Zusammenhangs zwischen Tier-, Umwelt- und menschlicher Gesundheit bereits Rechnung. Der Erhalt artenreicher und somit widerstandsfähiger Naturräume für Tiere und Pflanzen, die Stabilisierung regionaler Ökosysteme sowie letztlich auch der globale Klimaschutz sind in einer Welt nach Covid-19 eine wesentliche, und vergleichsweise günstig zu bekommende Vorsorge vor ruinösen Pandemien. Konsequenter Klima- und Artenschutz bedeuten demnach de facto auch effektiven Gesundheitsschutz.

Wie können und müssen wir die Konzeption von Nachhaltigkeit weiterentwickeln?

Renn: Die Corona-Pandemie muss als Warnsignal verstanden werden. Es unterstreicht die Unabdingbarkeit einer umfassenden sozial-ökologischen Transformation, die darauf abzielt, den immer steileren Abwärtstrend der Lebensgrundlagen aufzuhalten und mittelfristig umzukehren – und zwar bevor katastrophale Kipppunkte erreicht werden. Wir müssen Ursachen angehen anstatt nur immer wieder äußerst kostspielig die Symptome zu mildern.

Zum einen muss es bei der Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitskonzeption darum gehen, den ursächlichen Systemcharakter der Krise und ihre langfristigen Ursachen und Auswirkungen in den Blick zu nehmen und entsprechend zu agieren. Resilienz sollte man umfassend verstehen als interdependente Widerstandsfähigkeit von menschlicher Gesundheit, Gesellschaften und Ökosystemen. Das Konzept der „Planetaren Gesundheit“, das ich gerade ansprach, hat hier bereits Vieles vorskizziert.

Zum anderen muss das Konzept der Nachhaltigkeit, entgegen seiner eigentlichen Idee der Verstetigung und Überdauerung, stärker mit dem Effekt disruptiver Veränderungen umgehen und sie womöglich sogar selbst ins Feld führen. Wir erleben zunehmend katastrophalere Entwicklungen auf der globalen Ebene, ein Erdsystem, das sich auf geohistorischer Zeitskala geradezu sprunghaft wandelt, und zwar innerhalb weniger Jahrzehnte. Menschen sind eine sehr anpassungsfähige Spezies, das haben sie in ihrer gesamten Daseinsgeschichte gezeigt. Weniger anpassungsfähig sind ihre Kollektive und noch weniger die komplexen, hochgradig vernetzten Gemeinschaften, in denen wir heute agieren. Viele unserer kulturellen Vorstellungen, aber auch unserer technischen Infrastrukturen und vor allem wirtschaftlich-finanziellen Anreizsysteme sind sehr langsam in der Anpassung an die derzeitigen massiven Veränderungen und die notwendige Gefahrenabwehr.

Dabei braucht es nun mindestens ebenso disruptive Veränderungen in unserem Wirtschaftsleben und Konsumverhalten. Wenn eine Sache bislang „nachhaltig“ war, dann die Haltung, nichts grundlegend zu ändern.

Die Corona-Krise liefert, wie jedes disruptive Ereignis, die Aufforderung Strukturen zu überholen. Die Corona-Krise ist eine Grundlagenkrise und ihre Bewältigung wird Jahre in Anspruch nehmen: Zeit, die wir nicht zweimal haben, um die nötigen Transformationen anzugehen. Konkret bedeutet das, dass die nun anstehenden umfangreichen Post-Corona-Schock-Investitionen mit nie dagewesener Konsequenz am Leitkonzept der sozial-ökologischen Transformation ausgerichtet werden und selbst disruptive Korrekturen hervorrufen müssen.

Mit dem zu erwartenden ökonomischen Schub ergibt sich eine geradezu geohistorische Verantwortung für eine echte Weiterentwicklung von Energie-, Ernährungs- und Verkehrswende jenseits der bisherigen inkrementellen und unzureichenden Veränderungen. Notwendig ist dabei auch eine transparente Kostendiskussion, welche die massiven externen Kosten von Klima-, Umwelt-, und nicht zuletzt auch die daraus resultierenden Gesundheitsschäden berücksichtigt. Der zügige Abbau von direkten und indirekten Subventionen speziell im Bereich nicht-nachhaltiger Stoff- und Energiekreisläufe sollte jetzt angegangen werden, während die weitere Zementierung nicht-nachhaltiger und emissionsintensiver Infrastruktur unbedingt zu vermeiden ist.

Politik scheut disruptive Veränderungen, es herrscht die begründete Angst, Bürger zu überfordern. Aber wenn das System nunmal schon fiebert, braucht es eben keine Symptombekämpfung oder Beruhigungspille, sondern die richtige Medizin. Und hier kommt eine andere Eigenschaft von Politik zum Tragen: wenn es geboten ist, die Grenzen des Möglichen zu verschieben und dabei die Beachtung der Interessen schwächerer Mitglieder der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Und zu was Kollektive fähig sind, wenn die Notwendigkeit des Handelns einmal anerkannt ist, haben die vorsorglichen Maßnahmen in der ersten Pandemie-Welle gezeigt. Unsere Wirtschaft kann auch anders, nachhaltig, prosperieren. Der Aufbau einer klimafreundlichen Wirtschaft, auch Landwirtschaft, und deren weitgehende Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Artenverlust, neue Mobilitätsformen oder eine grüne Digitalisierung bieten wesentliche Impulse für Innovation und ein krisenfesteres Wachstum.

Welche (neuen) Erkenntnisse aber auch Kompetenzen bräuchten wir, um gestärkt bzw. nachhaltiger aus einer solchen Krise hervorzugehen?

Renn: Angesichts der dramatischen Auswirkungen der Pandemie besteht insbesondere die Notwendigkeit, die systemischen Ursachen und Zusammenhänge globaler gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Risiken und Resilienzen disziplinübergreifend besser zu erforschen und zu kommunizieren. Wissenschaft und Forschung werden sich in Zukunft daher noch stärker der Herausforderung stellen müssen, Beiträge zur Lösung komplexer Menschheitsprobleme disziplinübergreifend zu leisten. Die in der Krise gemachten Lernerfahrungen sollten wir nutzen.

Eine Trennung von öffentlicher Gesundheit und „Umweltthemen“ wie dem Klimaschutz ist längst nicht mehr aktuell. Tatsächlich stehen systemische Kopplungen von ökologischen und soziotechnischen Dynamiken zunehmend im Zentrum gegenwärtiger Forschung. Resilienz und Nachhaltigkeit sind Leitbilder, welche die notwendige Orientierung, die über die unmittelbare Bewältigung der Folgen der Corona Krise hinausreicht, geben.

Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen erfordern in jedem Falle eine langfristige Perspektive auf die durch die Pandemie notwendig gewordenen gesellschaftlichen und strukturellen Veränderungsprozesse, die nicht auf eine rasche Wiederherstellung und Zementierung eines nicht-nachhaltigen Status quo hinauslaufen dürfen, sondern eine Transformation bewirken sollten, die die systemweite Resilienz gegenüber derartigen Krisen stärkt.

Hier braucht es insbesondere neue, grundsätzliche Überlegungen zum Stellenwert von gemeinschaftlichen Gütern und Erfordernissen im Verhältnis zu individuellen Interessen. Das Verhältnis zwischen staatlicher Daseinsvorsorge und Intervention und privatem Handeln und Verantwortung muss neu ausbalanciert werden. Staatliche Institutionen sollten die technischen Elemente der Daseinsvorsorge (Infrastrukturen) so steuern, dass in subsidiärer Weise eine zielgerichtete Verfolgung gesellschaftlicher Verantwortung für eine nachhaltige Versorgung mit Energie, Mobilität, Wohnraum, Gesundheit usw. für den Einzelnen möglich und es dort, wo sinnvoll, mit den Entwicklungsmöglichkeiten des Marktes gekoppelt wird. Die Schnittstellen zwischen diesen Systemteilen sollten möglichst nach einem einheitlichen Konzept transparent gestaltet werden und einem fortwährenden Begründungszusammenhang – systemisch wie normativ und, zumindest auf kurzen Zeitachsen, auch unter pragmatischen Gesichtspunkten – auszusetzen. Zentral wird dadurch eine auf allen Ebenen verbesserte politische Information und Kommunikation sein, die jeweils einsetzt, bevor einseitige Maßnahmen in Kraft gesetzt werden.

 

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