Stephan Lessenich, Co-Leiter der wpn2030-AG “Zukunft der Arbeit”, spricht im Interview über die Herausforderungen und Chancen für die Transformation zu einer nachhaltigen Arbeitswelt. Das Interview gab er Sarah Kröger von WILA Arbeitsmarkt und erschien dort in der Ausgabe 5/2021.
WILA Arbeitsmarkt: Herr Lessenich, was ist für Sie „nachhaltige“ Arbeit?
Prof. Dr. Stephan Lessenich: Als Erstes denkt man da vermutlich an eine Arbeit, die ressourcenschonend ist und möglichst wenig negative ökologische Folgen hat. Die zum Beispiel nicht allzu emissionsintensiv ist oder in ihrem Vollzug nicht allzu vieler Rohstoffe bedarf. Aber mir ist es wichtig zu vermitteln, dass ökologische und soziale Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen. Das heißt: Nachhaltige Arbeit ist eine, die auch sozial nachhaltig ist. Die die menschlichen Ressourcen nicht übermäßig nutzt und die in Verhältnissen stattfindet, die sozial nicht destruktiv, sondern produktiv sind. Nachhaltige Arbeit schadet möglichst wenig der natürlichen und der sozialen Umwelt.
Warum wurde der soziale Aspekt beim Thema Nachhaltigkeit bisher nicht so stark mitgedacht?
Das ist eigentlich erstaunlich. Der ökologische Diskurs ist vor allem auf die Frage bezogen: Wo kommen Umweltprobleme her und wie sind sie zu bearbeiten? Dann kommen erstmal rauchende Schornsteine oder verunreinigte Gewässer in den Blick. Naheliegende Lösungen sind dann zum Beispiel eine CO2-Steuer, um die Emissionen zu senken, oder das Verbot von Plastiktüten. Dass die Produktion von Umweltproblemen aber eben mit dem wirtschaftlichen Produktionsprozess, und damit auch mit produzierender Arbeit zu tun hat, gerät dabei meist in Vergessenheit. Ganz generell wird aber nicht nur das Thema nachhaltige Arbeit, sondern überhaupt die Art und Weise, wie wir gesellschaftlich arbeiten, aus öffentlichen Debatten eher ausgeblendet. Dabei macht Arbeit den Großteil unseres Lebens aus, sowohl in der Form der Erwerbsarbeit, aber eben auch als Haushaltsarbeit oder Sorgearbeit. Trotzdem spielt sie in vielen gesellschaftlichen Debatten keine Rolle. Vielleicht, weil sie uns so selbstverständlich und fraglos notwendig erscheint.
Die Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 (wpn2030) wurde 2017 im Auftrag der Bundesregierung gegründet. Ihr Ziel ist es, Nachhaltigkeitspolitik wissenschaftlich zu reflektieren und innovative Impulse sowohl in Richtung Politik und Gesellschaft als auch in Richtung Forschung und Bildung zu geben. Im November letzten Jahres hat die wpn2030 ein Empfehlungspapier an die Bundesregierung zur Förderung nachhaltiger Arbeit verfasst. Was sind die Ziele?
Ein ganz zentrales Anliegen ist es uns, diesen erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff in die öffentliche Diskussion der Gesellschaft zu bringen. Ziel ist, es selbstverständlich werden zu lassen, dass Nachhaltigkeit nicht nur eine Frage der Ökologie ist, sondern ganz alltägliche soziale Praktiken betrifft, wie zum Beispiel und insbesondere die Arbeit. Dass die Frage: „Wie arbeiten wir?“ unmittelbar auch mit Nachhaltigkeitsfragen ökologischer und sozialer Art in Verbindung gebracht wird. Wir wollen sowohl die Wissenschaft als auch die institutionelle Politik und die politischen Akteure für Nachhaltigkeitsfragen sensibilisieren. Zudem fordern wir, dass Gütekriterien nachhaltiger Arbeit entwickelt werden sollten. Was macht die Nachhaltigkeit von Arbeit aus? Wie hätte eine Arbeit auszusehen, die die natürlichen Ressourcen nicht übernutzt und auch im Sozialen nicht destruktiv ist? Es gälte, einen konkreten Kriterienkatalog zu entwickeln, an dem man politische Maßnahmen und Instrumente messen kann.
In dem Empfehlungspapier steht, dass eine punktuelle Reformation der Arbeitswelt nicht ausreichend ist. Die Arbeitswelt müsste umfassend und nachhaltig transformiert werden. Wie könnte so eine umfassende Transformation in der Praxis aussehen?
Diese Forderung klingt wahrscheinlich in vielen Ohren richtig – und gleichzeitig in denselben Ohren wohl auch utopisch. Aber es ist tatsächlich so: Ohne eine umfassende Transformation der Arbeitsverhältnisse wird es keine Nachhaltigkeitswende geben. Dafür bräuchte es ein globales Regulierungsregime, das die Arbeit gesetzlich beschränkt und dafür sorgt, dass sie nicht übermäßig auf Kosten der Natur und der Menschen geht – und zwar nirgendwo auf der Welt, weder bei uns noch in den ärmeren Weltregionen. Gleichzeitig ist aber auch eine Änderung von alltäglichen Lebens- und Handlungsweisen der Menschen notwendig, besonders in unseren Breitengraden. Wenn wir zum Beispiel gegenwärtig pandemiebedingt im Homeoffice arbeiten, sollten wir uns klar machen: Das betrifft nur ein Viertel, maximal ein Drittel der Erwerbsbevölkerung. Andere Leute haben ganz andere Arbeitsprobleme, als ihr Homeoffice zu gestalten. Und wir sollten uns der Zusammenhänge bewusst werden, in denen unsere eigene Arbeit steht und als solche überhaupt erst möglich wird: Wenn uns dann ein gestresster Paketdienstleister ein Paket bringt, das uns die Arbeit im Homeoffice erträglicher machen soll, dann sollten wir reflektieren, inwiefern unsere eigene Tätigkeit von der prekären Arbeit anderer abhängig ist. Und von einer boomenden Paketlogistik, deren ökologischen Konsequenzen niemand wirklich in Rechnung stellt. Generell hieße das, unsere eigenen Arbeitsverhältnisse daraufhin zu überdenken, von welchen ökologisch und sozial nicht-nachhaltigen Arbeitsverhältnissen anderer wir abhängig sind.
Wozu fordert das Empfehlungspapier noch auf?
Wir werden individuell ständig dazu aufgefordert, uns zu bessern und unser Leben zu ändern. Dabei können permanente Appelle auch schnell erschöpfen. Wichtig scheint mir vor allem die politische Rahmensetzung zu sein. Deswegen richtet sich unser Appell in erster Linie an die politisch verantwortlichen Akteure mit Regulierungsmacht. Wenn sich dort ein breiteres Verständnis von Nachhaltigkeit durchsetzt und letztlich in gesetzlichen Vorgaben widerspiegelt, dann wäre schon viel gewonnen. Für die alltäglichen Praktiken der Menschen sind diese Rahmensetzungen, egal ob es Anreize oder Verbote sind, ganz zentral. Das merken wir auch aktuell: Nun ziehen die Leute eben statt Stoffmasken plötzlich FFP2-Masken an, selbst wenn sie es ungern tun – aber es ist nun einmal als Regel gesetzt und damit in gewisser Weise normalisiert. Dasselbe gilt auch für die Regulierung von nachhaltiger Arbeit: Wenn entsprechende Regularien erst einmal politisch erlassen sind, werden sie sich auch gesellschaftlich durchsetzen. Ansonsten würde ich sagen, sollte man mit den moralischen Appellen sparsam umgehen, gerade in Corona-Zeiten. Wenn man in der öffentlichen Debatte das Nachhaltigkeitsverständnis erweitert, dann können durch den Diskurs und den alltäglichen kommunikativen Austausch durchaus nachhaltigkeitsrelevante Einsichten zustande kommen.
In welchen Branchen gibt es besonderen Bedarf an Nachhaltigkeit?
Wenn wir die ökologische Nachhaltigkeit in Betracht ziehen, geraten vor allem große Teile des produzierenden Gewerbes in den Blick, besonders die sehr energie- und rohstoffintensiven Branchen. Dort muss sich massiv etwas ändern. In der Automobilindustrie ist das zum Beispiel auch mittlerweile Thema. Aber auch im Dienstleistungssektor gibt es viele Arbeiten, die gesellschaftlich absolut notwendig sind, aber unter sozial nicht-nachhaltigen Arbeitsbedingungen erbracht werden, wie etwa in der Pflege, in der Logistik oder auch im Bereich der Bildung und Ausbildung. Das wurde in den letzten Monaten im Zeichen von Corona ja teilweise auch von den Medien thematisiert. Hier müsste nun ernsthaft diskutiert werden, wie die Arbeit dort sozial nachhaltig gestaltet werden kann. Diese Debatte ist aber leider weitestgehend verpufft, die Pflegearbeit und die Zustellungsdienste funktionieren im Grunde genommen wie vorher auch.
Was ist die größte Herausforderung auf dem Weg in eine nachhaltigere Arbeitswelt?
Ich glaube, die größte Herausforderung ist für uns als Individuen und auch als Gesellschaft, die Zusammenhänge und Abhängigkeiten, in denen wir stehen, zu verstehen. Ich habe das mit dem Beispiel des Homeoffice eben angedeutet. Unsere Arbeit im Homeoffice funktioniert nur, weil viele unsichtbare Dienstleistungsarbeiten dahinter stecken. Deswegen sind solche physischen Begegnungen so wichtig: Wenn wir unsere Tür für den Paketdienstleister öffnen und sehen, dass dieser – offensichtlich eine Person mit Migrationshintergrund – in Hektik ist und gleich weiter muss. Dass er höchstwahrscheinlich zu schlechten Bedingungen unsere Pakete ausliefert, während draußen der Motor seines Dieseltransporters leerläuft. Wenn wir dann das Paket in der Hand haben, können wir überlegen: Was tue ich hier eigentlich? Welche Folgewirkungen hat mein Tun? Wäre es nicht vielleicht sinnvoller, diese Form der Zustellung von Gütern in Privathaushalte anders zu organisieren – nämlich sozial und ökologisch nachhaltiger? Die größte Herausforderung ist, die Voraussetzungen und Folgen des eigenen Handelns zu realisieren, das heißt: sie zu erkennen und anzuerkennen.
Was hat uns die Corona-Krise zum Thema nachhaltige Arbeitswelt gelehrt?
Wenn die Krise etwas Gutes hat, dann dass Fragen wie „Was brauchen wir eigentlich mindestens, damit eine Gesellschaft funktioniert?“ oder „Was ist an der Arbeit nicht nachhaltig?“ wieder gestellt werden und zum Thema werden. Die ganze Debatte um systemrelevante Berufe, die seltsamerweise mit am schlechtesten bezahlt werden und oft schlechte Arbeitsbedingungen haben, hat zwar schon wieder nachgelassen. Trotzdem sehe ich diese kritischen Fragen und Problemdiagnosen als ein zentrales Plus, das diese Krise bietet. Auch dass Corona selbst mit unserer nicht nachhaltigen Lebensweise zusammenhängt, wurde in der öffentlichen Debatte thematisiert, wenn auch nur am Rande. Unsere ganze Produktions- und Lebensweise, die Zersiedelung, der Naturverbrauch – all das schafft die Voraussetzungen und erhöht das Risiko von Pandemien massiv. Dass solche Debatten überhaupt angestoßen werden, ist ein großer Gewinn.
Was sind die nächsten Schritte der Arbeitsgruppe „Arbeit und Nachhaltigkeit“?
All unsere Erkenntnisse sollen in den politischen Diskussions- und Entscheidungsprozess einfließen. Kürzlich haben wir etwa das Thema nachhaltige Arbeit in einen Staatssekretär-Ausschuss eingebracht. Das ist in politischen Entscheidungsprozessen eine ganz zentrale Ebene, hier werden Themen vorsortiert und alle Ministerien sind mit dabei. Der Ausschuss hatte sich mit Chancen und Herausforderungen für nachhaltig wirtschaftende Unternehmen befasst, ohne dabei allerdings das Thema Arbeit zentral in den Blick zu nehmen – das wollten wir mit unserem Input ändern. Der Erfolg unserer Arbeit lässt sich allerdings nur schwer messen. Wir sind ja nicht die einzigen, die mit einem Empfehlungspapier an die Politik herantreten, die Politiker*innen und Verwaltungen werden teilweise bombardiert mit entsprechenden Papieren und allfälligen Appellen. Wir sind uns sehr bewusst, dass wir da nur mit eingeschränkter Aufmerksamkeit zu rechnen haben. Aber wir sind dennoch guten Mutes, dass durch die Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 und das wiederholte Einbringen von wissenschaftlichen Positionen der stete Tropfen den Stein höhlt.
Publikationen zum Download:
Impulspapier Input Staatssekretärsausschuss Hintergrundstudie