wpn2030-Lenkungskreismitglied Prof. Markus Vogt (LMU München) spricht im Interview zur Konsultationsfrage 4: Wie kann die Wissenschaft zur Krisenbewältigung beitragen und dazu auch einen Austausch zu Nachhaltigkeitsfragen initiieren?
Herr Professor Vogt, was verdeutlicht die Corona-Krise besonders hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaft?
Prof. Markus Vogt: Die Unerbittlichkeit der Corona-Pandemie hat verdeutlich, wie sehr die Gesellschaft auf wissensbasierte und präventive Strategien angewiesen ist. So wurden ganz unmittelbar die hohen Krisenkosten in Ländern, die mit populistischer Problemverdrängung zu antworten suchten, sichtbar. Es gilt nun, diese Lektion auch für Phänomene, bei denen die „Karenzzeit“ nicht zwei Wochen, sondern Jahre und Jahrzehnte beträgt – wie etwa dem Klimawandel oder dem Biodiversitätsverlust – fruchtbar zu machen. Die Aufgabe besteht darin, das neue Vertrauen in die Wissenschaft sowie ihr gelungenes Zusammenspiel mit Politik und Medien auch auf andere Bereiche zu übertragen und für die Wissenschaftskommunikation in Nachhaltigkeitsfragen weiter auszubauen.
Was kann Wissenschaft besonders zur Krisenbewältigung beitragen, was sollte sie dazu noch stärker in den Blick nehmen – und was haben insbesondere die Nachhaltigkeitswissenschaften zu bieten?
Vogt: Inhaltlich ist die wichtigste Qualitätsanforderung an die Wissenschaft zur Bewältigung der Corona-Krise systemisches Denken. Denn die Krise ist durch komplexe Situationen mit Dynamiken positiver Rückkopplung und exponentieller Wachstumsraten geprägt. Daraus ergibt sich ein hoher Grad an Unsicherheit, Zufallsempfindlichkeit und Nichtwissen hinsichtlich der Prognosen. x um bei möglichen Katastrophen reaktionsfähig zu bleiben.
Es bedarf eines Strategie-Mixes aus Risikominimierung, Vorsorge und Kommunikation bei unterschiedlicher Risikobewertung.1 All das sind zugleich typische Probelstellungen der Nachhaltigkeitswissenschaften,2 wobei von einem wechselseitigen Lernprozess zwischen Epidemologie, Risikobewertung, Resilienzstrategien, Umweltforschung, planetary-boundary-Theorien sowie Bildung und Forschung für Nachhaltigkeit auszugehen ist. Die Corona-Krise hat den Bedarf an neuen Formen und Foren von Komplexitäts-, Risiko- und Querschnittsforschung aufgezeigt. Die Konzepte von Sicherheit und Fortschritt müssen reformuliert werden.
Was ist bei der Krisenbewältigung besonders wichtig zu beachten für das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik?
Vogt: Sehr wichtig ist hier unter anderem die Unterscheidung der Ebenen von wissenschaftlichem Wissen, das nur dann glaubwürdig bleibt, wenn es stets auch die Grenzen des eigenen Wissens reflektiert und transparent macht, sowie von politischen Entscheidungen, die auch in Situationen von Unsicherheit abwägend und wertegeleitet getroffen werden müssen. Diese Differenzierung als Spannungsfeld transparent zu machen und sich wechselseitig anzuerkennen, ist und bleibt Basis für einen fruchtbaren Austausch zwischen Wissenschaft und Politik. Und daraus kann Zukunftsweisendes folgen. Der Schutz der Schwächsten etwa, der sich aus medizinischen Gründen in der Corona-Krise nahegelegt hat, sollte als gesamtgesellschaftliche Wertperspektive niemals vergessen werden. Auf diesem „Bodensatz“ gemeinschaftlicher Erfahrung werden zukünftig wahrscheinlich noch vergleichbar weitreichende Entscheidungen für ähnlich fundamentale Krisen aufbauen können.
Welche weiteren Herausforderungen stellt die Corona-Krise der Wissenschaft in normativen Dimensionen?
Vogt: Die Verknüpfung von Fakten und Handlungsaufforderungen und die daraus resultierenden Herausforderungen für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Politikberatung lag oft auf der Hand. Sie ist jedoch insbesondere in der Situation des mit vielen Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten verbundenen Wieder-Hochfahrens des gesellschaftlichen Lebens mit besonders komplexen Abwägungsfragen verbunden.
Das Spannungsverhältnis zwischen der drastischen Einschränkung von Freiheiten und dem Anspruch der Grundrechte ist sensibel auch verfassungsrechtlich und politikwissenschaftlich auf den Prüfstand zu stellen. Die Corona-Krise braucht hier gesellschaftswissenschaftliche und normative Begleitforschung, um der Möglichkeit des Missbrauchs der Macht in der Krise Einhalt zu gebieten und der politisch explosiven Mischung aus Existenzängsten, Rechtspopulismus, linksextremer Staatsfeindlichkeit bei den Demonstrationen entgegen zu treten.
Gerechtigkeit in der Verordnung von Einschränkungen und teilweisen Lockerungen ist Voraussetzung für eine Akzeptanz in der Bevölkerung. Dabei wurden auch Fehler gemacht, zum Beispiel hinsichtlich der Vernachlässigung von Perspektiven, die nicht gut organisiert sind, wie die der Familien und der Kinderbetreuung. Es ist transparent zu machen, dass die Definition „systemrelevanter Tätigkeiten“ ein hochgradig normatives Konzept ist, das kritisch analysiert werden muss und bei dem nicht vorschnell beispielweise Aspekte von Kultur, Bildung und sozialer Nähe ausgeschlossen werden dürfen.
Eine normative Frage, die einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedarf, ist nicht zuletzt, wie weit man internationale Solidarität fördern kann, ohne Haftung zu kollektivieren und Eigenverantwortung zu schwächen. Dies ist insbesondere bei der Debatte um Corona-Bonds, aber auch den vielfältigen Formen der Staatshilfen (beispielsweise für Kommunen) virulent. Was nachhaltige Wirtschaft unter der Hypothek der gigantischen Verschuldungen bedeutet, muss ganz neu austariert werden. Hier hat Wissenschaft die Aufgabe, ihre starke internationale Vernetzung für die eine wissensbasierte Verständigung und den Wiederaufbau von Vertrauen (beispielsweise mit Italien) zu nutzen. Die Schlüsselrolle der Nationalstaaten als Agenten der Krisenbewältigung ist Wegweiser für ein subsidiär organisiertes Europa. Die Zuordnung von regionalem, nationalem, europäischem und globalem Gemeinwohl bedarf angesichts der Herausforderungen der Corona-Krise neu der wissenschaftlichen Reflexion.
Was kann man für die Wissenschaftskommunikation aus der Corona-Krise lernen, insbesondere auch in Sachen nachhaltige Entwicklung?
Vogt: Die Medien waren und sind ein ganz wichtiger Faktor für die dichte Information und Aufklärung der Öffentlichkeit, wobei auch emotionale Aspekte durch Berichte zu Erfahrungen von Betroffenen in unterschiedlichen Kontexten eine wichtige Rolle gespielt haben. Wissenschaftsjournalismus, der weder Panik schürt noch sich in verharmlosenden Abstraktionen verliert, der Handlungskonsequenzen aufzeigt, ohne zu bevormunden, und der robustes Wissen gegen fake news und Verschwörungstheorien fördert, ist auch für die Wissenschaftskommunikation im Feld der Nachhaltigkeit unverzichtbar. Angesichts der raschen Verbreitung von Falschnachrichten in allen sozialen Medien bedarf es einer aktiven Strategie zur Sicherstellung einer einfachen Zugänglichkeit und besseren Verteilung von hochwertigen Nachrichten und Faktenchecks einschließlich der Definition von Mindestanforderungen an das methodische Vorgehen bei der Identifikation und Richtigstellung von Falschnachrichten und einer Definition von Mindestanforderungen an Transparenz und Dokumentation bei Faktenchecks.3
1 Vgl. Renn, Ortwin (2008): Risk Governance. Coping with Uncertainty in a Complex World, London; Renn, Ortwin (2014): Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Frankfurt.
2 Vgl. Messerli, Peter (2019), Der Global Sustainable Development Report 2019. Vortrag bei der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 am 5.12.2019 in Berlin. www.wpn2030.de/Jahreskonferenz2019 (Abruf:9.5.2020)
3 Vgl. Kompetenznetzt Public health COVID-19 (2020): Umgang mit Falschnachrichten in Medien (15.5.2020); https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/2020_05_11_Factsheet_Fake_News-V1.pdf?wt_zmc=nl.int.zonaudev.zeit_online_chancen_w3.m_18.05.2020.nl_ref.zeitde.bildtext.link.20200518&utm_medium=nl&utm_campaign=nl_ref&utm_content=zeitde_bildtext_link_20200518&utm_source=zeit_online_chancen_w3.m_18.05.2020_zonaudev_int (Abruf 18.5.2020)