Die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Prof. Lisa Herzog von der Universität Groningen spricht im Interview über darüber, was uns die Krise hinsichtlich Nachhaltigkeit zeigt, welche Ansätze zur Krisenbewältigung sie sieht und welche Rolle die Wissenschaft spielt.
Frau Herzog, was führt uns Ihres Erachtens die Corona-Pandemie klar vor Augen? Wo treten nicht nachhaltige gesellschaftliche Verhältnisse deutlicher hervor? Sehen Sie Anzeichen dafür, dass nachhaltige Werte und Verhaltensformen gestärkt werden könnten?
Prof. Lisa Herzog: Die Dimension von Nachhaltigkeit, die mir als erstes in den Sinn kommt, ist soziale Nachhaltigkeit im Sinne dessen, dass Sozialsysteme so konstruiert sind, dass sie in Krisenzeiten stabilisierend wirken und alle Mitglieder der Gesellschaft einigermaßen auffangen. Wir sehen, dass Länder, in denen es Instrumente wie Kurzarbeit und gut ausgestaltete Sozialversicherungssysteme gibt, besser durch die Krise kommen als hyperkapitalistische Gesellschaften.
Was ökologische Nachhaltigkeit angeht, ist eine interessante Frage, wie sich das Konsumverhalten ändern könnte. Konsum ist in hohem Maß eine Frage der Gewohnheit und der gesellschaftlichen Normen, die die Einzelnen manchmal regelrecht als Druck erleben („to keep up with the Jones“, sagt man im Englischen so schön; im Deutschen gibt es den Begriff des „Geltungskonsums“). Dadurch, dass im Moment sehr viele Arten von Konsum, gerade im Bereich der Flugreisen, eingeschränkt sind, könnten sich soziale Normen verändern, hin zu nachhaltigeren Mustern. Allerdings ist dies kein Automatismus – es könnte auch ein Nachholeffekt auftreten, und ein Zurückfallen in alte Gewohnheiten. Deswegen ist es so wichtig, die gesellschaftliche Debatte über Nachhaltigkeit auch während der Pandemie weiterzuführen.
Welche Antworten und Handlungsvorschläge haben Sie hinsichtlich der Herausforderungen der gegenwärtigen Krise? Welche Handlungsfelder sind Ihres Erachtens prioritär?
Herzog: Es fällt mir schwer, einzelne Punkte herauszugreifen, weil es so viele wichtige Bereiche gibt! Innerhalb Deutschlands scheint es mir zum Beispiel höchst dringlich, das Thema Bildungsgerechtigkeit im Blick zu behalten – nicht zuletzt, weil die Auswirkungen sehr langfristig sein können. Hier stand schon vor Corona vieles nicht zum Besten, und durch die Schulschließungen und die möglicherweise lange anhaltende Verwendung von online-Methoden könnten sich die Unterschiede zwischen Kindern aus unterschiedlichen Milieus massiv verstärken.
Wir dürfen aber auch auf keinen Fall die internationale Dimension übersehen – Deutschland dürfte, nach derzeitigem Stand, relativ glimpflich durch die Krise kommen, und besser als manch andere Länder in der Lage sein, internationale Verantwortung zu übernehmen. Das betrifft sowohl die internationalen Anstrengungen in Bezug auf Klimawandel, Armutsbekämpfung und soziale Entwicklung, als auch den europäischen Zusammenhalt.
Und nicht zuletzt muss der Umbau der Wirtschaft hin zu einem gerechten und nachhaltigeren System natürlich weitergehen, national wie international.
Sie haben einen Aufruf von 3.000 Wissenschaftler*innen mit dem Titel Arbeit: Demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten mitunterzeichnet. Was ist die Kernbotschaft – und was kann jetzt Wissenschaft insbesondere beitragen?
Herzog: Die Kernbotschaft ist, dass wir die Arbeitswelt anders gestalten müssen, so dass sie nicht einseitig dem Kapital, sondern der Gesellschaft als ganzer dient und nachhaltig gestaltet wird. Wir haben in der Krise unsere gegenseitige Abhängigkeit, auch und gerade von Menschen in sehr schlecht bezahlten Jobs, eindrücklich vor Augen geführt bekommen. Ein bisschen Applaus und einmalige Boni reichen aber nicht, wir brauchen strukturelle Veränderungen, bei denen es letztlich auch um Machtfragen geht.
Die Wissenschaft ist hier ein Akteur unter vielen, die sich für eine Umgestaltung einsetzen können und müssen. Sie kann öffentliche Debatte starten, und vielleicht auch eine gewisse Koordinationsfunktion übernehmen. Vor allem kann sie klarmachen, dass das jetzige Wirtschaftssystem nicht alternativlos ist. Die Theoriebildung ist längst weg vom neoliberalen Paradigma, aber in der öffentlichen Debatte merkt man immer wieder, wie tief bestimmte Annahmen noch sitzen. Dabei gibt es zahlreiche Vorschläge und ja auch schon reale Fälle, zum Beispiel von nachhaltigeren und demokratischen Unternehmensformen, die von verschiedenen Disziplinen intensiv erforscht werden. Es ist an der Zeit, praktische Umsetzungsversuche zu starten und politisch zu unterstützen.
Hat die Pandemie Auswirkungen auf ihren Forschungsalltag und folgt für Sie daraus auch eine Neubewertung ihrer Forschungsprioritäten?
Herzog: Meine beiden derzeitigen Hauptthemen, die Zukunft der Arbeit und die Frage nach dem Verhältnis von Expertise und Demokratie, bleiben beide hochaktuell und ich bekomme quasi täglich interessantes neues Anschauungsmaterial, z.B. zur Frage, wie der Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit funktioniert. Hinzugekommen ist die Frage nach einer gerechten internationalen Verteilung eines Corona-Impfstoffs, da wurde ich in eine internationale Arbeitsgruppe eingeladen und wir führen sehr intensive Diskussionen.
Was die konkreten Formen des Arbeitens angeht, sehe ich ein Paradox, aber ein erfreuliches: Gerade jetzt, wo wir alle vereinzelt zu Hause sitzen, erlebe ich sehr viele Formen der Kooperation, neue Allianzen bilden sich, es gibt intensive Debatten in Videokonferenzen. Eine Sache, die mich daran sehr freut, ist, dass auf einmal viel leichter ist, auch Wissenschaftler*innen aus dem globalen Süden oder von ärmeren Universitäten, die mangels Finanzierung oft nicht zu Konferenzen reisen konnten, in die Diskussionen einzubinden. Ich glaube, dass wir von ihnen sehr viel lernen können, und hoffe, dass sich diese Öffnung der – bislang oft doch sehr euro- und US-zentrischen – wissenschaftlichen Debatte weiter fortsetzen wird.