Wiederaufbau zum Umbau nutzen – in Richtung Nachhaltigkeit
Mit sinkenden Fallzahlen und vorsichtigen Lockerungen von Schutzmaßnahmen zeichnet sich für Deutschland ein erster positiver Wendepunkt ab in der Corona-Krise. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bereiten sich auf einen Wiederaufbau vor, um Schäden zu beheben und Entbehrungen zu mildern. Dieser Aufbau kann und muss aber in vielen Bereichen dringend auch für einen Umbau genutzt werden – in Richtung Nachhaltigkeit. Ein Beitrag von Markus Vogt.
Deutschland, wie auch alle weiteren Staaten der Welt, stehen durch die Corona-Krise – einzeln und auch gemeinsam – vor einem riesigen, komplexen Berg von Herausforderungen des Wiederaufbaus. Die bereits eingetretenen und weiterhin drohenden wirtschaftlichen und sozialen Schäden sind enorm: Von Überschuldung, Unternehmensbankrotten und Arbeitslosigkeit über Mobilitätseinschränkungen und geographische Abschottung bis hin zu Bildungspausen und Steigerung von häuslicher Gewalt. All diese und viele weitere Probleme gilt es weiterhin abzufedern und beherzt anzupacken – und zwar bei andauerndem Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung durch das Corona-Virus.
Vor diesem Hintergrund ist es angemessen, dass finanzielle, politische und gesellschaftliche Ressourcen mit voller Kraft eingesetzt werden, um sich möglichst zügig wieder einen status quo ante coronam anzunähern. Zu befürchten ist dabei aber, dass dies mit Inkaufnahme hoher Nebenkosten geschieht. Dass also etwa Standards von Demokratie, Transparenz und internationaler Solidarität unter die Räder geraten könnten – und nicht zuletzt auch ein langfristiges politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Ziel, das zentral ist, um globale und lokale Krisen unterschiedlichster Art (auch Pandemien) vorzubeugen: Nachhaltige Entwicklung.
International könnten Stimmen laut werden, etwa den Green Deal der EU zurückzunehmen, weil die Ressourcen für die Corona-Bewältigung verbraucht seien. National ist indes absehbar, dass finanzielle Mittel für Investitionen beim nationalen Umbau des Energiesystems fehlen werden. Und die Autoindustrie ruft bereits nach Erleichterungen der Klimaschutzauflagen, um die Krise überstehen zu können. Nicht zuletzt wird es etwa nicht leicht sein, beim Öffentlichen Nahverkehr gleiche Akzeptanz wie vor der Krise zu erzeugen, da im Kontext von Corona viel Misstrauen gegen den engen Kontakt im öffentlichen Raum entstanden ist.
Gleichzeitig zeigt der Umgang mit der Corona-Krise aber auch, wie in erstaunlich kurzer Zeit eine radikale Transformationen der Gesellschaft mit Nachhaltigkeitseffekten möglich sind. Eine so drastische Reduktion von Konsum sowie von internationalem Waren- und Personenverkehr wurden lange für unmöglich gehalten. Die Krise ist ein Experimentierfeld für Coping-Strategien im Umgang mit einem Phasensprung im Alltags- und Wirtschaftsleben. Viele entdecken digitale Kulturtechniken für Konferenzen, Internet-Teaching und persönliche Kommunikation. Mitten in der Krise ist auch eine Kultur der Muße, der Erreichbarkeit, der stabilitas loci und der familiären Nähe gewachsen. Die drastische Reduktion des CO2-Ausstoßes ermöglicht zudem besser das Erreichen von Klimaschutzzielen, wenn sie nicht nur als „Delle“ einzigartig bleibt sondern auch imstande ist Alternativen für später aufzuzeigen. Die enorme Entschlusskraft für Konjunkturprogramme, damit Wirtschaft und Gesellschaft nicht in der Krise zerfallen, weckt Hoffnungen: sofern diese jetzt konsequent verbunden werden mit einem Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, damit diese künftig resilienter, klimaverträglicher und robuster werden.
Wir befinden uns also offenkundig an einem Zeitpunkt, an dem Chancen und Risiken für nachhaltigen Wandel gleichermaßen rapide angewachsen sind und dicht beieinanderliegen. Wofür wir uns entscheiden, wird auch maßgeblich eine Frage des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Willens sein. Das Wegwischen von Alternativen aufgrund von „Sachzwängen“ sollten wir uns nach Corona nicht mehr so schnell einreden lassen wie bisher.
Um nicht in den früheren Zustand zurückzukehren, sondern in Richtung Nachhaltigkeit aufzubrechen, ist es also geboten, wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau nicht gegen nachhaltige Ziele auszuspielen, sondern alle Aspekte vielmehr zusammenzudenken und zusammen zu planen. Etliche Zielkonflikte wie etwa zwischen gesundheitlicher Risikominimierung und wirtschaftlicher Funktionsfähigkeit, Klimaschutz und Schuldenbremse oder europäischer Solidarität und nationaler Krisenbewältigung sind dabei freilich programmiert. Aber: Nachhaltigkeit selbst, verstanden als die systemische Integration sozialer, ökologischer und ökonomischer Entwicklungen, kann für die Lösung dieser Zielkonflikte entscheidende Horizonterweiterungen anbieten. Insofern ist die Corona-Krise auch für Nachhaltigkeitsakteure eine bedeutende Bewährungsprobe: Indem sie belegen, dass Nachhaltigkeit kein Luxusdiskurs für bessere Zeiten ist, sondern reflektiertes und wirksames Change-Management anbietet. Mit dem Ziel, unterschiedliche Krisen, die durch nicht nachhaltiges Leben getriggert und verstärkt werden – wie etwa die Klimakrise – zu verringern und, wenn sie dann eintreten, gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Systeme widerstandsfähiger gegen sie zu machen.
Zu solchen Krisen gehört im Übrigen auch die Corona-Krise selbst. Auch ihre Ursachen, ihre Intensität und Reichweite lassen sich unter anderem auf nicht nachhaltiges Leben zurückführen. Durch die weitreichende Zerstörung von Lebensräumen wilder Tier, etwa durch exzessive Waldrodungen, kommt der Mensch immer häufiger und enger mit den Wildtieren in Kontakt – und damit auch mit ihren Krankheitserregern wie dem Corona-Virus. Ebenso ist der Massentourismus ein Faktor, der die rapide Ausbreitung des Virus massiv begünstigt hat. Und die bodenlose Armut sowie der Klimawandel schwächen die Widerstandskraft vieler Gesellschaften im globalen Süden gegen Corona.
Und die Corona-Krise zeigt uns auch deutlich, wie Systeme unserer Gesellschaft zusammenhängen und ihre Resilienz beziehungsweise Vulnerabilität abhängig ist von nachhaltiger beziehungsweise nicht nachhaltiger Organisation. Als ein Beispiel sei hier nur das Kaputtsparen von Gesundheitssystemen in einigen Ländern genannt zugunsten von Gewinnen privatisierenden und Kosten vergesellschaftenden Wirtschaftssystemen – und wie die Wirtschaftssysteme im Falle einer Pandemie wiederum von den kaputtgesparten oder vernachlässigten Gesundheitssystemen in Mitleidenschaft gezogen werden können.
Wenn wir also aus der Corona-Krise lernen wollen und sie als Chance begreifen, um solche und ähnliche Krisen künftig präventiv zu verhindern und zu mildern, gilt es einen konsequenten und umfassenden nachhaltigen Wandel einzuleiten.
Und die Zeit dafür ist günstig, unter anderem auch da die Corona-Krise und der Umgang mit ihr jede Menge Lernerfahrung bietet. Das Vorgehen für den erfolgreichen Ausbau der Gesundheitssysteme hin zu hoher Elastizität und Widerstandsfähigkeit kann etwa für andere Bereiche genutzt und international ausgetauscht werden.
Krisen haben oft ein hohes Mobilisierungspotenzial für Veränderungen. Die Corona-Pandemie ist eine Zeit des radikalen Wandels. Alles dreht sich darum, vom Modus des Wandels by desaster zum Wandel by design, also zielorientierter Planung, zurückzufinden.
Dafür muss man – wie es auch Nachhaltigkeitskonzepte vorsehen – lernen, Problemhierarchien in komplexen Systemen einzuschätzen und positive Rückkopplungsprozesse, die mit exponentiellen Kurven Probleme eskalieren lassen, zu vermeiden. Es kommt darauf an, systemrelevante Faktoren zu erkennen und rechtzeitig zu handeln, bevor die Kontrolle entgleitet.
In der Finanzkrise 2008/2009 haben wir es bereits schon einmal weitgehend versäumt, den Umbruch für systemische Innovation zu nutzen – mit der Folge von sich perpetuierenden und wiederkehrenden Krisen im Finanz- und davon abhängigen Sektoren. Wir haben es in der Hand es diesmal anders zu machen.
Als Mutmacher sei dabei auch betont: Katastrophale soziale und wirtschaftliche Bedingungen müssen nicht zwangsläufig zu einer desolaten Entwicklung führen. Es gibt immer wieder Menschen und Gesellschaften, die an Krisen wachsen – oder wie es in der Wissenschaft heißt: ein hohes Maß an Resilienz entwickeln. Schlüsselelemente sind dabei soziale und kulturelle Ressourcen der Kommunikation, Netzwerke von Solidarität, aber auch Fähigkeiten kreativer Verarbeitung widriger Erfahrungen (etwa das Balkonsingen, initiiert von den Menschen in Italien).
Das Konzept der Resilienz sucht nach Faktoren, die Systeme, Individuen oder Gesellschaften befähigen, radikale Umbrüche zu überstehen oder sogar an ihnen zu wachsen. Resilienzforschung beschäftigt sich mit psychischen, sozialen oder biologischen „Immunsystemen“: So wie sich ein Immunsystem erst entwickelt, wenn es mit Viren, Bakterien und Schmutz konfrontiert ist, brauchen auch soziale Systeme Störungen, um zu reifen und zu wachsen. Eine solche Reifung ist aber kein Selbstläufer, sondern entsteht aus Auseinandersetzung und gelingt nicht immer.
Es gibt beispielsweise nicht wenige Menschen und Gesellschaften, die eine schwere Krise durchlebt haben und daraus verstärkt Empathie für die Nöte und Sorgen des Nächsten entwickelt haben. Die räumliche Metapher des social distancing wäre missverstanden, wenn man sie im Sinne einer sozialen Isolation und Abschottung interpretiert. Dies ist eine latente Gefahr im Umgang mit den Alten unserer Gesellschaft. Auch Kommunikation und Nähe gehören zu den existenznotwendigen „Lebensmitteln“. Solidarität ist eine der wichtigsten Ressourcen für eine resiliente Gesellschaft. Hierbei können kulturelle und religiöse Traditionen helfen, die grundlegenden Einstellungen und Sinnmuster zu bestimmen, derer es bedarf, um mit einer solidarischen Perspektive nach Lösungen zu suchen und in Krisen zu reifen.
Krisenbewältigung braucht einen großen Zusammenhalt der Gesellschaft, der sich teilweise bereits sehr positiv und kreativ entfaltet hat, beispielsweise mit Nachbarschaftshilfe und einem enormen, weit über das Maß der Pflicht hinausgehenden Engagement der Pflegekräfte. Die Entdeckung, dass diese systemrelevant sind, sollte sich künftig beispielsweise in besserer Bezahlung der Care-Berufe ausdrücken. Die hohe Qualität des medizinischen Systems in Deutschland hat Vertrauen erzeugt. Die rasche und radikale Digitalisierung der Lehre an Schulen und Hochschulen war und ist eine beachtliche soziale Leistung. Die Virtualisierung von Konferenzen hat viel Reisezeit gespart. Die breite Zustimmung zum Krisenmanagement der Politik ist eine positive Erfahrung in schwierigen Zeiten. Die Bereitschaft der Bevölkerung, harte Einschnitte mitzutragen, war und ist sehr hoch. Die gute mediale Berichterstattung ist Ausdruck und Motor einer lebendigen Demokratie mit ihren Qualitätsmedien. International hat sich gezeigt: Die Verdrängungsversuche populistischer Politik wurden rasch entlarvt. In Corona-Zeiten haben Lügen kurze Beine.
Die Corona-Pandemie hat eine neue Nachdenklichkeit in Bezug auf Lebensstile erzeugt. Sie ist ein gesellschaftliches Experiment radikaler Entschleunigung. Darin liegt ein großes Potenzial für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt. Die Digitalisierung ist rasant vorangekommen. Nun gilt es zu unterscheiden, welche Strukturveränderungen sinnvoll über die Krise hinaus beibehalten oder weiterentwickelt werden sollen. Wirtschaftliche Nachhaltigkeit jenseits der gängigen Muster, muss neu gelernt werden. Dabei wissen wir, dass wir erst am Anfang der Bewältigung der Krise sehen. Die Gesellschaft wird eine andere sein. Es gibt vieles, was wir lernen können und müssen, um die sozialen Immunsysteme gegen künftige Krisen nachhaltig zu stärken.
Der Text wurde verfasst auf der Grundlage der virtuellen wpn2030-Lenkungskreissitzung am 31. März 2020 sowie des Buches: M. Vogt. Wandel als Chance oder Katastrophe, München 2019