Ute Klammer über Corona und die wissenschaftliche (Sozial-)Politikberatung

Prof. Ute Klammer, Geschäftsführende Direktorin am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, Mitglied u.a. des Sozialbeirats der Bundesregierung

Welche Anforderungen stellen Politik und Gesellschaft derzeit an die wissenschaftliche Politikberatung? Welche großen Herausforderungen für die Pandemiebewältigung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung gibt es? Welche lessons learnt lassen sich aus der aktuellen Situation für eine verbesserte wissenschaftliche Politikberatung ableiten? Darüber spricht Prof. Ute Klammer im Interview. Das Interview wurde in Ergänzung zu dem gemeinsamen Bericht aus dem Beirätedialog 2019 mit Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie geführt.

 

Frau Klammer, können Sie kurz skizzieren, welche Anforderungen Politik und Gesellschaft aus Ihrer Sicht aktuell an die Wissenschaft und besonders die wissenschaftliche Politikberatung stellen?

Prof. Ute Klammer: In den ersten Wochen, nachdem die Pandemie Deutschland erreicht hatte und auch das Bewusstsein der Bedrohung angekommen war, konnte man deutlich spüren, wie wichtig die wissenschaftliche Beratung für die politischen Bewältigungsstrategien war. Fast tägliche gemeinsame Fernsehauftritte von Politikern und Virologen prägten das Bild und die Rekordeinschaltquoten der Nachrichtensendungen unterstrichen die Unsicherheit und das Bedürfnis der Bevölkerung nach verlässlichen wissenschaftlichen Informationen.

Inzwischen hingegen steht diese anfängliche Wissenschaftsgläubigkeit stark unter Beschuss. In der Politik wird der anfangs kohärent getragene Weg der Bundesregierung zur Pandemiebekämpfung nicht mehr von allen Bundesländern getragen und selbst auf Bundesebene wird er von einigen Politikern offen in Frage gestellt. Auch in der Bevölkerung wächst offensichtlich der Unmut, je länger die sogenannten Distanzierungsmaßnahmen und die daraus resultierenden Einschränkungen andauern und – dem Paradoxon der bisher erfolgreichen Prävention folgend – ein umfassendes Krisenerlebnis, so wie es in anderen Ländern von weiten Teilen der Bevölkerung hautnah erlebt wurde, hier in Deutschland zumindest zunächst ausbleibt.

Das Bedürfnis nach Sicherheit und Informationen ist zwar weiterhin groß, aber es wird zunehmend durch scheinbar einfachere Erklärungen und Fake-Newsgestillt und von Interessensgruppen instrumentalisiert. Die Wissenschaft ist hier im Nachteil, allein dadurch, dass sie zumeist keine schnellen oder einfachen Antworten geben kann, besonders nicht, wenn es sich um eine neuartige Gefahr handelt deren Bekämpfung sofortige und derart weitreichende Maßnahmen erfordert wie sie auf die Entdeckung des SARS-Covid II Virus erfolgten.

Nach Überwindung des ersten sozusagen globalen Schockzustands und Zuwendung zur Wissenschaft mobilisieren jetzt Interessensgruppen zum Gegenangriff. In diesem Kampf um Deutungshoheit und Aufmerksamkeit werden die eigentlichen Stärken der wissenschaftlichen Forschung, wie z.B. Ergebnisoffenheit, Äußerung von abgewogenen und aufgrund unzureichender Datengrundlage lediglich vorläufigen Erkenntnisständen, als Schwächen ausgelegt und die darauf basierenden Änderungen und Anpassungen politischer Maßnahmen als Eingeständnis von Fehlentscheidungen.

Welche Chancen und Herausforderungen für eine Pandemiebewältigung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung sehen Sie in den derzeitigen Entwicklungen?

Klammer: Die Agenda 2030 / SDG und die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie bieten weiterhin nützliche Rahmensetzungen, auch oder besonders in der derzeitigen Situation. Wichtige Chancen sehe ich zum Beispiel in der Digitalisierung, die in Deutschland bisher eher schleppend vorangekommen ist und jetzt sozusagen eine erzwungene und rasante Beschleunigung in vielen essentiellen Lebensbereichen durch die Pandemiebewältigung erfahren hat. Auch die zahlreichen Beispiele, z.B. der solidarischen Nachbarschaftshilfe, zeigen wie auch schon in der Vergangenheit, dass alte, häufig nicht nachhaltige Verhaltensmuster geändert werden können und die Menschen einen hohen Grad an Resilienz und Bereitschaft zeigen, sich solidarisch in Krisenmomenten zu verhalten.

Aus sozialpolitischer Sicht gilt natürlich besonders das Prinzip der Agenda 2030 „Leave no one behind“ als Rahmensetzung für die Pandemiebewältigung. Wie auch der letzte Woche veröffentlichte Fortschrittsbericht zu den SDGs durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen betont, sehe auch ich in diesem Bereich derzeit die größten Herausforderungen für eine erfolgreiche Pandemiebewältigung. Von Bereichen mit schwierigen Arbeitsbedingungen und schlechter Bezahlung, nicht nur in der Pflege sondern in zahlreichen anderen systemrelevanten Sektoren wie z.B. dem Einzelhandel und der Fleisch- und Lebensmittelproduktion, über die unzureichende Unterbringung von Migranten bis hin zur mangelnden Gleichstellung der Geschlechter und Alleinerziehenden in der Bewältigung von Haushalt, Familie und Beruf – die aktuelle Situation fungiert wie ein Brennglas, das teils lang bestehende Ungleichheiten in den Fokus rückt.

Am Bespiel der Digitalisierung tritt, trotz der insgesamt positiven Entwicklung hin zu mehr Flexibilität und selbstverantwortlichen Spielräumen in der aktuellen Lebensgestaltung, die sogenannte „digitale Kluft“ stark hervor. Von einer Idealisierung beispielsweise der Homeoffice- Situation sollte man daher absehen. Ältere Menschen mit weniger digitalen Kompetenzen und Zugängen, Menschen die ihre Tätigkeiten nicht einfach in das Homeoffice verlegen können, Kinder und sozial schwache Bevölkerungsgruppen, und Menschen, die auf dem Land und in Regionen wohnen, in denen der Zugang zum Internet immer noch nicht ausreichend vorhanden ist, sind vom derzeit primär online stattfindenden gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen bzw. benachteiligt. Besonders für diese Gruppen muss die Teilhabe am sozialen Leben und auch am politischen Diskurs über die nun getroffenen Entscheidungen sichergestellt werden, auch da diese Gruppen im Negativen wie im Positiven am stärksten von den Konsequenzen dieser Maßnahmen betroffen sein werden.

Welche lessons learnt leiten Sie aus der aktuellen Situation für eine verbesserte wissenschaftliche Politikberatung ab?

Klammer: Das Prinzip von „Leave no one behind“ auf die Wissenschaft und die wissenschaftliche Politikberatung angewandt sehe ich derzeit einen besonders starken Bedarf für Forschung, die sich den aktuellen, mittel- und langfristigen Konsequenzen der derzeitigen und zukünftigen politischen Entscheidungen zur Pandemiebewältigung auf die Lebenssituation benachteiligter Gruppen widmet. In atemberaubender Geschwindigkeit wirbelt die Corona-Pandemie ja die ganze Gesellschaft durcheinander und hinterlässt tiefe Verteilungswirkungen – so wie es aussieht mit der Tendenz, bestehende Verteilungsungleichheiten weiter zu verstärken. Hier brauchen wir zuverlässige Daten, um jetzt bereits Entscheidungen so zu treffen, dass Ungleichheiten in unserer Gesellschaft durch die Krise nicht weiter verfestigt werden und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wird. Andererseits scheinen sich Möglichkeitsfenster zu öffnen, mit Verweis auf Corona plötzlich Missstände anzugehen, die lange bekannt waren, ohne dass man sie ernsthaft angegangen wäre, so die schlechte Bezahlung von Pflegekräften, die Missstände in der Durchsetzung von Mindestlöhnen und Mindestarbeitsbedingungen, wie man es z.B. am Subunternehmertum in der Fleischbranche sieht, oder auch die strukturelle Unterfinanzierung und Überschuldung von Kommunen. Man hat den Eindruck, dass Corona Politikern und Politikerinnen vielfach eine Legitimation gibt, längst überfällige Handlungsdesiderate und Kurskorrekturen (man denke nur an die „schwarze Null“) jetzt ohne Gesichtsverlust angehen zu können. Den Verteilungswirkungen müssen wir jedenfalls genau nachgehen, um weiterhin solide Grundlagen für politisches Handeln zu schaffen. Dies betrifft auch Fragen der Nachhaltigkeit und intergenerationalen Gerechtigkeit angesichts des gewaltigen Umfangs der Staatsverschuldung, der nun in nur wenigen Monaten und ohne die üblichen demokratischen Beratungs- und Entscheidungsprozeduren von wenigen handelnden Akteuren beschlossen wurde.

Das BMAS hat zum Beispiel im Rahmen des Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS), wo ich im wissenschaftlichen Beirat mitarbeite, einschlägige Forschungsprojekte ausgeschrieben. Auch in der Wissenschaft selbst treten lang bekannte Benachteiligungen in der aktuellen Situation allerdings wie durch ein Brennglas betrachtet hervor. Beispielsweise sehen wir die deutlichen Effekte der derzeitig verstärkten Doppelbelastung von Alleinerziehenden und Wissenschaftlerinnen in Bezug auf Haushaltsführung und Kinderbetreuung: sie haben momentan weniger Zeit und Ressourcen als ihre männlichen Kollegen zur Verfügung haben, sich um Bewerbungen, Antragsstellungen oder Publikationen zu kümmern bzw. ihre Erkenntnisse in den politischen Diskurs miteinzubringen. Viele Wissenschaftlerinnen werden daher jetzt kaum die Chance haben, sich kurzfristig um Gelder für Corona-bezogene Forschung zu bewerben. Über den inhaltlichen Fokus von Forschung und Beratung auf für diese Gruppen relevante Fragestellungen und Forschungsvorhaben hinaus, finde ich daher Initiativen wie die Stellungnahme der deutschen Women in Global Health Gruppe, die u.a. eine gleichberechtigte Repräsentanz und Beteiligung von Frauen in Beratungs- und Entscheidungsgremien in Bezug auf Covid-19 fordert, sehr wichtig. Auch über die Wissenschaft und das Gesundheitssystem hinaus sollten sowohl die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen als auch die Repräsentanz- und Beteiligungsstrukturen die Berücksichtigung und Teilnahme von benachteiligten Gruppen gewährleisten und so das Prinzip von „Leave no one behind“ der Agenda 2030 als zentralen Referenzrahmen allen Pandemiebewältigungsmaßnahmen und den politischen Entscheidungsprozessen voranstellen.

Abschließend möchte ich für die für diese Fragestellungen eingerichteten wissenschaftlichen Beratungsgremien der Bundesregierung anregen, dass wir unsere beratende Funktion in den aktuellen Zeiten flexibler und damit aktueller gestalten. So hat der Sozialbeirat, der älteste, bereits zu Adenauerzeiten eingerichtete wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung, bisher lediglich die Aufgabe, in einem Gutachten zu dem jährlichen Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung Stellung zu nehmen. Dieses wird regelmäßig im November dem Bundesarbeitsminister bzw. der Bundesarbeitsministerin übergeben. In dem Gutachten wird zwar nicht nur Stellung zum Rentenversicherungsbericht bezogen, sondern auch auf aktuelle Entwicklungen in der Alterssicherung Bezug genommen. In Anbetracht der aktuellen Situation und der Bedeutung sozialpolitischer Fragestellungen für eine erfolgreiche Pandemiebewältigung wäre es aber ratsam, wenn dieses und andere sozialpolitische Beratungsgremien flexibler und zeitnaher Stellung beziehen würden. Zahlreiche hierfür erforderliche Voraussetzungen, z. B. in der Ausstattung und der Kompetenzbildung in den Beratungsgremien, spreche ich in meinem Beitrag zum gemeinsamen Bericht des Beirätedialogs 2019 zur Überarbeitung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, auf den ich an dieser Stelle verweisen möchte.

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